EU-Gipfel: Staats- und Regierungschefs nutzen die Ukraine als Spielball für eigene Interessen
Von Timofei W. Bordatschow
Die EU befindet sich derzeit sowohl nach innen als auch nach außen in einem Zustand, in dem die Aufnahme von Verhandlungen über einen Beitritt der Ukraine oder Moldawiens keinen ernsthaften Schaden anrichten kann. Angesichts der schwachen Hand, die von der Union derzeit geführt wird, kann jedoch selbst eine solche fadenscheinige Einigung von den europäischen Staatschefs als kleiner außenpolitischer Erfolg betrachtet werden. Aber ändern wird sich dadurch nichts.
Beim Gipfeltreffen ging es ohnehin ausschließlich um die Beziehungen zu den Hauptakteuren auf der internationalen Bühne – den USA, Russland und China – und hatte nichts mit der inneren Entwicklung der Union zum Wohle seiner Bürger zu tun. Tatsächlich ist dies längst nicht mehr das Ziel europäischer Politiker, die ihre persönlichen Perspektiven nicht unbedingt an die Zukunft der von ihnen geführten Staaten knüpfen.
Offiziell war Ungarn das Haupthindernis für positive Entscheidungen in der Frage der Hilfe für die Ukraine und ihre mögliche Mitgliedschaft in der EU. In Wirklichkeit ist die Situation viel komplizierter. Brüssels Hauptgesprächspartner ist in dieser Frage ein Verbündeter – Washington. Für die Westeuropäer selbst stellt es kein großes Problem dar, der Ukraine finanzielle Mittel zuzuweisen oder mit dem Land Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufzunehmen.
Zunächst einmal sollten wir uns wahrscheinlich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die 50 Milliarden Euro – die Ungarn blockierte – an sich keine große Geldsumme sind. Die Summe ist beispielsweise zwölfmal geringer als der EU-Fonds, der 2020 eingerichtet wurde, um jenen Ländern und Sektoren zu helfen, die am stärksten von der Coronavirus-Pandemie betroffen waren.
Wir wissen sehr gut, wofür die EU ihr Geld gerne ausgibt und es besteht kein Zweifel daran, dass ein Großteil davon zwischen europäischen Industrien und verschiedenen Beratungsunternehmen aufgeteilt wird, die Dienstleistungen für die ukrainische Regierung erbringen. Falls die Mittel tatsächlich bereitgestellt werden, wird die ukrainische Wirtschaft selbst sehr wenig davon abbekommen. Dies gilt umso mehr, nachdem vorgeschlagen wurde, diese Mittel über mehrere Jahre zu verteilen, was es wiederum möglich macht, diese Finanzhilfen einzustellen, sollten sich die politischen Umstände ändern.
Die Hauptfrage für die Länder der EU ist daher, was die USA der Ukraine zusagen werden und was nicht. Die EU betrachtet den Konflikt mit Russland um die Ukraine zu Recht als eine Angelegenheit der USA. Die deutsche und die französische Regierung sind zwar bereit, die Ukraine mit Waffen und Geld zu unterstützen, machen sich aber keine Illusionen darüber, wo Kiews tatsächliche Loyalität liegt. Berlin, Paris und Rom haben erkannt, dass der Einfluss der EU auf die Ukraine längst verloren gegangen ist und dass Brüssel für ein Regime bezahlt, das den Interessen der USA und in geringerem Maße auch den Interessen Großbritanniens dient.
Die Lage in den USA ist derzeit unklar, da sich das Ringen zwischen den wichtigsten politischen Kräften zunehmend verschärft. Die Höhe der künftigen Hilfe für die Ukraine hängt somit von der innenpolitischen Stimmung ab, die derzeit von den Vorbereitungen auf die Präsidentschaftswahl 2024 dominiert wird. Innenpolitische Themen, insbesondere die Einwanderungspolitik, rücken daher in den Vordergrund.
Die jüngsten Besuche ukrainischer Staatsbeamter in Washington haben keine greifbaren Ergebnisse gebracht: Es wird immer deutlicher, wie weit Kiews Probleme von dem entfernt sind, was dem US-Establishment derzeit wirklich am Herzen liegt. Während für Präsident Wladimir Selenskij, nach all den Versprechen, die man ihm in Washington zuvor gegeben hatte, das Scheitern der Ukraine bei der jüngsten Betteltour eine ernsthafte Enttäuschung darstellen mag, bietet die anstehende Drosselung der Geldflüsse aus den USA für die EU eine Gelegenheit, mit Washington zu verhandeln.
Obwohl in den politischen Kreisen der EU vorwiegend eine antirussische Stimmung herrscht, betrachtet niemand in der EU – mit Ausnahme einiger in Polen und den ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken –, den Konflikt mit Russland als eine persönliche Angelegenheit. Und während die USA derzeit nicht in der Lage sind, eine Entscheidung über weitere Hilfen für die Ukraine zu treffen, haben die großen Länder der EU keinen Grund, vorschnelle Entscheidungen über die Bereitstellung eigener Gelder zu treffen. Aber selbstverständlich wird niemand in Deutschland oder Frankreich offen darüber sprechen wollen. In diesem Sinne hilft ihnen die Anwesenheit Ungarns dahingehend, dass alles auf die Unnachgiebigkeit Budapests zurückgeführt werden kann. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass die EU konkrete Entscheidungen aufschieben wird, bis die USA eine konkrete Entscheidung getroffen haben.
Die Frage der Aufnahme von Verhandlungen mit der Ukraine und Moldawien über einen EU-Beitritt wurde zwar kontrovers diskutiert, aber gleichzeitig basiert die Position der meisten EU-Länder auf der Tatsache, dass die Aufnahme von Verhandlungen nicht unbedingt bedeutet, dass sie zeitnah abgeschlossen werden. Die EU verfügt über jahrzehntelange Erfahrung mit nicht enden wollenden Prozessen der Vorbereitung für den EU-Beitritt der Türkei. Deshalb betrachten Deutschland und Frankreich den Beginn des Verhandlungsprozesses als eine völlig unverbindliche Angelegenheit, was Emmanuel Macron auch offen ausgesprochen hat. Und dies kann im Kontext der Beziehungen zu den USA, Russland und China betrachtet werden.
Im Fall der USA werden Brüssel und die westeuropäischen Hauptstädte ihre positive Entscheidung als einen wichtigen Schritt zur Erfüllung der Wünsche Washingtons darstellen. Was die Beziehungen zu Moskau betrifft, ist die Stellungnahme zu den Verhandlungen mit der Ukraine und Moldau aus rein politischer Sicht zu betrachten: Sie geben der EU einen Hebel in die Hand, für künftige Verhandlungen mit dem Kreml. Im Fall von China – das die Entwicklungen des Konflikts in Osteuropa genau beobachtet –, glaubt die EU damit die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten demonstrieren zu können. Die Frage nach der Zukunft der Ukraine und von Moldawien ist jedenfalls zweitrangig. Der Beitritt zur EU ist seit Langem kein Garant mehr für die Erlangung der Vorteile, wie sie die Kernstaaten der EU genießen.
Im Allgemeinen kann niemand mit Sicherheit sagen, wie ein "vereintes Europa" in 20 bis 30 Jahren aussehen wird. Zahlreiche Politiker haben seit Langem erkannt, dass sie darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Union in einem sich verändernden internationalen Umfeld bewahren können. Aber sie können das nicht wirklich ernsthaft anpacken: Die Unsicherheit innerhalb der EU-Länder selbst ist zu groß und die Aussichten für ihre wirtschaftliche Entwicklung und ihre Beziehungen zu den USA sind unklar. Die europäische Integration, wie wir sie aus den 1990er- und 2000er-Jahren kennen, ist längst vorbei und es ist unklar, wodurch sie ersetzt werden wird. Und es sieht so aus, dass nicht wenige bereit zu sein scheinen, die europäische Integration locker und politisch fragmentiert zu gestalten, sodass selbst eine formelle Mitgliedschaft der Ukraine und Moldawiens kein besonderes Problem darstellen wird.
Aus dem Englischen.
Timofei W. Bordatschow (geboren 1973) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Experte für internationale Beziehungen, Direktor des Zentrums für komplexe europäische und internationale Studien an der Fakultät für Weltwirtschaft und Weltpolitik der HSE Universität in Moskau. Unter anderem ist er Programmdirektor des Internationalen Diskussionsklubs Waldai.
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