Die Russen kommen!
Von Rüdiger Rauls
Ein Ruf wie Donnerhall
Dieser Satz beinhaltet verschiedene Aussagen. Generationen von Deutschen fuhr der Schrecken in die Glieder bei dem Ruf: "Die Russen kommen!" Dieser Aufschrei des Entsetzens kam aber nur, wenn deutsche Invasoren von russischem Gebiet vertrieben wurden, nachdem sie das Land bis nach Moskau verwüstet und seine Menschen getötet hatten. Wäre der Deutsche zu Hause geblieben, wäre der Russe auch nicht gekommen. Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Deutsche das nie hatte sehen wollen oder können. Vermutlich ist er zu sehr verblendet durch ein wirres Weltbild, das ihm über Generationen in den Frühstückbrei gerührt worden war.
Im Moment befinden sich die Russen noch in der Ostukraine. Aber entgegen allen Voraussagen der sogenannten Experten stehen sie nicht mehr, sondern setzen sich langsam in Bewegung Richtung Dnjepr. Der Gegenoffensive, die den Ukrainern die strategische Wende bringen sollte, haben sie standgehalten. Auch die westlichen Waffenlieferungen haben ihnen nicht viel anhaben können.
Ähnlich erging es den Sanktionen, die aus Sicht der Vertreterinnen feministischer Politik die russische Wirtschaft ruinieren (Baerbock) sollten. Aber auf welche Tatsachen stützt von der Leyen, Baerbocks Schwester im feministischen Geiste, die Behauptung: "Die Sanktionen fressen sich Woche für Woche tiefer in die russische Wirtschaft"? Von welchem Realitätssinn zeugt die Weissagung: "Russlands Staatsbankrott ist nur eine Frage der Zeit"?
Alles vollmundige und voreilige Äußerungen, getrieben von Wunschdenken und ohne Bezug zu den wirklichen Verhältnissen. Im Triumphgeheul von der Leyens, "die russische Wirtschaft ist in Fetzen, sage ich, in Fetzen", drückt sich abgrundtiefe Gehässigkeit aus, die anscheinend schon allzu lange darauf hatte warten müssen, endlich von der Kette gelassen zu werden.
Der blinde Glaube an die eigene Propaganda und westliche Überlegenheit scheint grenzenlos und macht zudem zügellos. Aber wieder einmal haben russische Bodenständigkeit und Besonnenheit deutschen Hochmut besiegt. Die deutschen Führungskräfte scheinen nicht dazuzulernen, und nun zittern sie wieder davor, dass die Russen kommen könnten, näher an deutsches Kernland.
Nach fast zwei Jahren Krieg ist die strategische Wende nicht eingetreten. Die immer häufiger beschworene Pattsituation an der Front stellt sich zunehmend als das verzweifelte Klammern an einen letzten Rest Hoffnung heraus, mit großen Worten die Tatsachen verschleiern zu können. Was aussah wie ein Patt, war die beharrliche Vorbereitung auf die Verstärkung des militärischen Drucks.
Dieser scheint nun zu wirken. Immer häufiger teilen nun auch westliche Meinungsmacher ihrem Publikum mit, dass die Front der Ukrainer zunehmend unter dem Mangel an Munition und Soldaten bröckelt. Aber sie schwächelt auch unter der nachlassenden Unterstützung der sogenannten Freunde im politischen Westen. Der Rückhalt Selenskijs im eigenen Volk schwindet, die Geschlossenheit der ukrainischen Führungskräfte zerfällt.
Der Erfolg hat viele Väter, sagt man, aber dem Misserfolg muss einer zum Fraß vorgeworfen werden. Immer offener wird in den westlichen Medien über Selenskijs Fehler berichtet, über seine Ablösung und etwaige Nachfolger spekuliert. Gleichzeitig versuchen Regierungsvertreter im politischen Westen weiterhin, Geld für die Unterstützung der Ukraine zusammenzukratzen.
Aber auch dort werden die Widerstände größer, je teurer und aussichtsloser das ukrainische Abenteuer wird. Vollmundige Beteuerungen und Durchhalteparolen bestimmen die politischen Auftritte. Das ist besonders auffällig bei jenen, die noch vor nicht allzu langer Zeit naseweis über die Nibelungentreue der Deutschen während des Weltkrieges den Kopf geschüttelt hatten. Verstehen sie es heute besser, wo sie sich genauso verhalten?
Das große Zittern
Man scheint im politischen Westen zu ahnen, dass sich der Wind dreht. Immer öfter wird darüber spekuliert, ob Putin sich schon weitere Opfer aus der NATO-Riege ausgesucht hat. Wen wird er als Nächsten kassieren, wenn die Ukraine nicht mehr in der Lage ist, unsere Freiheit zu verteidigen? Wer soll dann noch da und bereit sein, für die Freiheit des politischen Westens zu sterben?
Glücklicherweise sind die NATO-Führer wenigstens bisher noch so nah an der Wirklichkeit, dass sie nicht glauben, der Ukraine mit eigenen Truppen zu Hilfe eilen zu müssen oder gar zu können. Solch große Opfer scheint man dann doch nicht für die eigene Freiheit bringen zu wollen. Hoffentlich bleibt es so. Unter diesen Umständen scheint den Meinungsmachern, die bisher ihre Völker im Westen auf den Sieg der Ukraine und den Untergang Russlands eingeschworen hatten, die Zuversicht ausgegangen zu sein.
Immer öfter werden Gedankenspiele angestellt, wer denn als Nächster auf Putins Speisezettel stehen könnte. Denn anders können es sich die Einpeitscher im Westen nicht vorstellen, als dass Russland – ähnlich wie sie selbst – rücksichtslos seinen Vorteil über die Leichenberge anderer Völker hinweg suchen wird. Der politische Westen kennt es nicht anders, als jenen den eigenen Willen notfalls mit Gewalt aufzuzwingen, die zu eigenwillig sind, sich zu unterwerfen, und zu schwach, sich zu wehren.
Die Meinungsmacher aus Medien und Politik sowie die Experten, die ihnen nach dem Munde reden, befürchten nun, dass Russland gerade das macht, was sie selbst Russland in Aussicht gestellt hatten: Zerstückelung und Unterwerfung. So wie der politische Westen das Riesenreich hatte dekolonialisieren wollen, um den "Unterdrückten" die westliche Vorstellung von Freiheit zu bringen, so befürchten sie nun, dass Russland dieses westliche Vorgehen kopieren und sich nach und nach einzelne Teile einer geschwächten EU unter den Nagel reißen könnte.
Dass Putin und Russland immer wieder etwas anderes gesagt haben, kommt bei ihnen nicht an. Sie scheinen zu denken, dass man den Worten der Russen genauso wenig vertrauen kann, wie sie es von sich selbst nicht anders kennen, wenn es darum geht, zum eigenen Vorteil Wortbruch zu begehen. Denn nicht zuletzt die Wortbrüche in Bezug auf die NATO-Osterweiterungen und die Minsker Abkommen haben zu dieser Situation geführt, die der Westen und in seinem Schlepptau die Ukraine nun ausbaden müssen.
Verblendung und große Irrtümer
Aber weder die Russen noch die Chinesen sind so verblendet wie der politische Westen selbst und nicht so dumm, wie er es von diesen beiden annimmt. Russen und Chinesen wissen aus eigener Erfahrung, dass die militärische Unterwerfung fremder Völker auf Dauer selten erfolgreich, wohl aber sehr teuer ist. Die Russen haben es als Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg unter Beweis gestellt, indem sie unter gewaltigen Opfern die deutschen Eindringlinge zurückgeschlagen und letztlich sogar auch vernichtend besiegt haben.
Ähnlich ist das Verhältnis der Chinesen zur Fremdherrschaft. Sie selbst waren immer deren Leidtragende, haben aber durch ihren antikolonialen Kampf die Erfahrung gemacht, dass selbst übermächtig erscheinende Fremdherrschaft durch den geeinten Kampf eines Volkes unter besonnener Führung überwunden werden kann. Aus dieser Erfahrung heraus betont China immer wieder, keine Fremdherrschaft über andere Völker anzustreben.
Bei den Führern im politischen Westen kommen jedoch weder die russischen noch die chinesischen Erklärungen an. Sie sind zu sehr verfangen in ihren eigenen Vorstellungen davon, wie die Welt auszusehen und in welche Richtung sie sich zu entwickeln hat. Sie wollen die Wirklichkeit nicht wahrhaben und scheinen unfähig, Entwicklungen zu analysieren. Sie sind zu sehr beherrscht von dem Glauben, dass die anderen Völker und Mächte der Welt nach denselben Gesichtspunkten Entscheidungen treffen wie sie selbst.
Dabei sind die meisten dieser Sichtweisen nicht nur falsch, sondern sogar schädlich für die eigenen Interessen. Abgesehen von der Rüstungsindustrie haben alle anderen Wirtschaftszweige im Westen nur Nachteile vom Krieg in der Ukraine und den Sanktionen gegen Russland. Zwar steigen die Umsätze und Aktienkurse der Waffenschmieden, aber die Exporte der restlichen Wirtschaft nach Russland haben sich für die deutsche Wirtschaft halbiert, und für die europäische sieht es vermutlich auch nicht besser aus. Zudem hat sich durch den Anstieg der Energiepreise die Konkurrenzfähigkeit besonders der deutschen Industrie dramatisch verschlechtert.
Die westliche Wirtschaftspolitik gegenüber China, die neuerlich geprägt ist von dem Wunsch, die Entwicklung des Landes zu behindern und sich selbst von chinesischen Lieferketten und Warenlieferungen unabhängig zu machen, haben zu einer Verdopplung des Defizits in der Handelsbilanz zwischen der EU und der Volksrepublik geführt. Die westliche Industrie darf immer weniger Güter nach China liefern, die auf einem hohen technischen Niveau liegen. Das ist nicht im Interesse der westlichen Wirtschaft.
Außer dem Wunsch, Russland zu schwächen, ist kein Ziel in diesem Ukrainekrieg zu erkennen, das dem politischen Westen Vorteile bringen könnte. Im Gegenteil: Immer mehr Staaten wenden sich ab und finden sich in neuen Organisationen wie der BRICS+ und ähnlichen multipolar ausgerichteten zusammen. Wie wirklichkeitsbezogen sind die Überlegungen und Versuche, China einzudämmen? Welchen Vorteil hatte der Krieg gegen den Terror bringen sollen? Die Ergebnisse sind niederschmetternd: Hunderttausende von Toten, zerfallene Staaten, Schuldenberge und ein gewaltiger Machtverlust der USA im Nahen Osten.
Und nun kommt die nächste Fehleinschätzung: Die Russen wollen über die Ukraine hinaus in NATO-Gebiet einfallen. Natürlich weiß keiner, was die Zukunft bringt. Aber alle Erklärungen und vorgetragene Kriegsziele Russlands sind andere. Man muss die Ansichten Putins nicht teilen oder gar richtig finden.
Aber angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, angesichts des Vorrückens der NATO an die Grenzen Russlands entgegen früheren Zusagen, angesichts der NATO-Pläne der Ukraine sind die russischen Kriegsziele, Entmilitarisierung der Ukraine und deren Neutralität, nachvollziehbar, und sie stellen sich auch zunehmend als erreichbar heraus.
Nun ist der politische Westen in heller Panik, dass die unterschätzten und belächelten Russen offensichtlich so stark sind, dass sie der geballten westlichen Militärmacht standhalten können. Die Russen hatten sich auf eine konventionelle Auseinandersetzung mit dem Westen vorbereitet, während dieser noch in islamischen Staaten Kriege gegen Bauernarmeen führte und verlor. Dementsprechend unterschiedlich war die militärische Ausstattung.
Der Westen hat die konventionelle Rüstung vernachlässigt, weil man die Russen glaubte im Griff zu haben. Denn sie waren in ihren Augen nichts weiter als eine "Tankstelle mit Atomwaffen". Nun stellt sich heraus, dass die Russen mehr sind als das. Sie haben vor allen Dingen offensichtlich die Verhältnisse und Entwicklungen in der Welt klarer eingeschätzt. Nun weiß der Westen nicht, woher er die Produktionskapazitäten und auch das Geld bekommen soll, um mit Russland in der konventionellen Rüstung wieder gleichziehen zu können.
Die Russen kommen! Ob sie nach Europa kommen, kann keiner sagen. Aber dass sie in immer mehr Staaten der Welt willkommen sind als Handels- und Geschäftspartner, als Investoren, als Planer und Entwickler von Infrastruktur und als Vermittler in Konflikten, kann nur schwer übersehen werden. Sie sind nicht so isoliert, wie die Meinungsmacher uns glauben machen wollen. Darin gleichen sie den Chinesen mehr als den Staatenlenkern des politischen Westens.
Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse
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