Sie muss einfach die Böse sein – Correctiv, Wagenknecht und die Hexenprobe
Von Dagmar Henn
Wahrscheinlich hat sich Reinhard Bütikofer irgendwann vor vierzig Jahren in China den Magen verdorben. Das kommt einem so in den Sinn, wenn man seine jüngsten, massiv antichinesischen Aussagen liest. Schließlich stammt Bütikofer aus der Führungstruppe des "Kommunistischen Bundes Westdeutschlands" (KBW), und die reiste öfter mal nach China, unter anderem, um ihre Finanzierung sicherzustellen.
Was jetzt keine Verleumdung meinerseits ist (die Reisen; der verdorbene Magen ist Vermutung), sondern etwas, was mir die einstmalige Nummer zwei der KBW-Führung, Martin Fochler, erzählt hat, als ich Stadträtin der Linken in München war und er Mitarbeiter meiner Stadtratskollegin. Zu diesem Zeitpunkt waren andere aus dieser Truppe, wie Winfried Kretschmann, Ralf Fücks sowie der ehemalige Oberhäuptling Joscha Schmierer längst über die Grünen in Amt und Würden.
Der KBW war eine wirklich seltsame Truppe. Sein Zentralorgan, "Kommunistische Volkszeitung" genannt, versuchte, "Die Zeit" als nur mit Abitur lesbares Blatt zu übertreffen, auf Demonstrationen gleich zu welchem Thema tauchte der KBW über Jahre hinweg nur mit der Losung "Weg mit dem Paragraf 218" auf, und er widmete sich, als die vietnamesische Armee Pol Pot stürzte, ausführlich der Verteidigung Pol Pots. Dann löste er sich in die Grünen auf, und eine ganze Reihe früherer Führungspersonen wandelte sich zu vehementen Antikommunisten. Ralf Fücks mit seiner innigen Liebe zu ukrainischen Nazis ist dafür wohl das Extrembeispiel.
Man muss schon "Das Leben des Brian" schauen, um die Atmosphäre dieser Gruppen in den 70er- und 80er-Jahren zu verstehen. Es ist auch längst klar, dass zwar eine Reihe davon Geld aus China erhielten (die KPD/AO beispielsweise ebenfalls) oder aus Albanien, wie die KPD/ML, aber die ganze, tiefgehende Spaltung zwischen Maoisten und der moskautreuen Linie von der CIA massiv gefördert, wenn nicht gar erst ins Leben gerufen, wurde – die CIA importierte und verschickte schon in den 1960ern die deutsche Ausgabe der Peking Rundschau.
Aber eigentlich geht es mir gar nicht um den KBW oder um Kretschmann und Pol Pot. Sondern es geht mir um den Umgang mit politischen Biografien. Würde nämlich überall der gleiche Maßstab angelegt, dürfte Kretschmann wegen Pol Pot heute nicht Ministerpräsident von Baden-Württemberg sein.
Ja, wir reden wieder von der tollen Correctiv-"Recherche". Oder von den Vorwürfen, die nun gegen Sahra Wagenknecht erhoben werden, weil sie Mails mit einem gewissen Gernot Mörig austauschte. Der sei schließlich ein bekannter Nazi, sie hätte ihn wenigstens googeln müssen. Wagenknecht verteidigte sich auch noch gegen diesen Vorwurf, akzeptierte also die Einordnung Mörigs durch Correctiv.
Die ist aber so eine Sache. Ja, Mörig war einmal Bundesvorsitzender des Bundes Heimattreuer Jugend, und das war tatsächlich eine Organisation von Neonazis. Ich habe damals gegen diese Truppe demonstriert; sie versuchten im äußeren Auftreten, mit Kleidung und Fanfarenzug, tatsächlich die HJ zu imitieren (übrigens, das gerichtsnotorische Vergehen meiner Jugend bestand im Tragen eines FDJ-Hemds).
Aber diesen Vorsitz hatte Mörig bis 1979, wir reden also von einer Zeit, als Kretschmann noch Pol Pot verteidigte. Die letzte Information, die selbst Wikipedia – bei der man davon ausgehen kann, alles negative Material auch eingestellt zu haben – diesen Zusammenhängen zuordnet, stammt von 1985. Der Kalender zeigt derzeit 2024. Das liegt also alles bereits 39 Jahre zurück.
Man kann nicht oft genug erwähnen, dass ein grundlegender Unterschied besteht zwischen Menschen, die eine Meinung vertreten, und jenen, die Verbrechen begehen bzw. begangen haben. Ein gewisser Theodor Oberländer beispielsweise, Minister in der Regierung Adenauer, war der Verbindungsoffizier der Wehrmacht zum Bataillon Nachtigall, und mit diesem 1941 am furchtbaren Pogrom von Lwow beteiligt. Bereits 1953, acht Jahre nach Kriegsende, war er wieder in führender Position; und er hat seine Überzeugungen zeitlebens nicht erkennbar geändert. Das ist etwas vollkommen Anderes als selbst eine Führungsposition in einer Neonazitruppe. So zu tun, als wäre das das Gleiche, erhebt die Meinung zum Verbrechen und verharmlost damit die wirkliche Untat.
Aber es gibt noch einen viel grundlegenderen Punkt, der es vollkommen absurd macht, dass sich Leute wie die Angehörigen der Spitzeltruppe Correctiv tatsächlich für Linke halten. Selbst einem wie Oberländer müsste man zugestehen, zu lernen und sich zu ändern. Das war immer eine, wenn nicht die Kernüberzeugung der Linken (in der heutigen Wirrnis müsste man schon schreiben, der "traditionellen Linken") – dass der Mensch nicht von Geburt an festgelegt ist, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. An dieser Stelle gibt es übrigens eine Schnittmenge mit zumindest einigen christlichen Vorstellungen, die schließlich auch um bekehrte Steuereintreiber, resozialisierte Prostituierte und Saulus-Paulus-Erzählungen kreisen.
Es mag ja sein, dass Gernot Mörig heute noch erzkonservativ ist. Wagenknecht jedenfalls hat erzählt, er hätte ihr ein Abendessen mit dem Kabarettisten Volker Pispers vermittelt und danach einige Mails mit ihr gewechselt. Das wäre für einen eingefleischten Nazi zumindest eigenartig, außer, er wäre in Wirklichkeit Agent. Wagenknecht (oder, seien wir einmal ehrlich, einer ihrer Mitarbeiter) hätten sich vor dem Mailwechsel erkundigen müssen, wer Mörig sei, heißt es übereinstimmend in der Presse. Wirklich? Ist das die Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen sollen, erst einmal im Internet nachzusehen, ob die Person auch unbescholten ist, ehe man überhaupt die Möglichkeit zulässt, den Menschen selbst wahrzunehmen?
Man könne das ganz schnell herausfinden, wer Mörig sei, heißt es dann. Das stimmt aber nicht. Man kann finden, dass er Zahnarzt war, sogar Zahnheilkunde unterrichtet hat. Und dann gibt es diese alten Informationen, die 1985 enden. Ja, es mag sein, dass er heute noch so denkt wie 1979. Statistisch ist das jedoch eher unwahrscheinlich; es ist also genauso unsinnig, das Mörig zu unterstellen, wie zu behaupten, dass Kretschmann noch heute Pol Pot unterstützt. Es gibt, wenn jemand nicht besonders eifrig schreibt und veröffentlicht, nur eine einzige Art und Weise, herauszufinden, was jemand aktuell tatsächlich denkt: die Person zu treffen und mit ihr zu reden. Lang, und nicht nur einmal. Und dann zu beobachten, in welchem Verhältnis das Reden und das Handeln stehen.
Das ist genau der Punkt, an dem sich auch klassische Interviews, wie die berühmten Gespräche von Günter Gaus, von den heutigen Talkshows unterscheiden. In der Bereitschaft, das Gegenüber in diesem Moment gelten zu lassen, und nicht schlicht die vorbereitete Munition von "Sie haben doch" abzufeuern. Das ist es, was die wirklich lehrreichen Momente entstehen lässt, weil man Zeuge einer echten Begegnung wird, die Offenheit von beiden Seiten voraussetzt.
Solche echten Begegnungen sind es auch, die Erkenntnis entstehen lassen können. Sowohl bei den Beteiligten des Gesprächs als auch beim eventuellen Zuschauer. Womit man beim nächsten Punkt wäre, dass nämlich Menschlichkeit reziprok ist. Nicht notwendigerweise in dem Sinne, dass das Gegenüber dann selbst menschlich handelt, aber auf jeden Fall in dem, dass man selbst an Menschlichkeit verliert, wenn man sich nicht um sie bemüht.
Das sind alles Dinge, die man selbst in der Westrepublik nicht hätte predigen müssen. Schon gar nicht innerhalb der "traditionellen Linken". Denn die grundsätzliche Bereitschaft, jeden Menschen erst einmal gelten zu lassen und mit ihm zu sprechen, ihm zu begegnen (was nicht ausschließt, sich als Feinde wieder zu trennen), findet sich auch in den Rechtsgrundsätzen, die allem zugrunde liegen müssen, was sich Rechtsstaat schimpfen will: dass jeder als unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld bewiesen ist, und dass immer auch die Gegenseite gehört werden muss.
Nicht nur, dass davon kein Rest verblieben ist. Im Gegenteil, eine zutiefst korrupte, vom Staat finanzierte Denunziationstruppe wie Correctiv darf Richter und Vollstrecker in einem sein, und wenn jemand es wagt, die Angeklagten zu verteidigen, gilt er sogleich als mitschuldig. Und fast die gesamte Medienlandschaft folgt diesem inquisitorischen Wahn, der immer mehr an die Hexenprobe der Inquisitionsprozesse erinnert, bei der man die Frauen gefesselt ins Wasser warf. Überlebten sie, wurden sie als Hexen verbrannt, gingen sie unter, waren sie keine Hexen, aber trotzdem tot.
Nur als Beleg für diesen Irrwitz ein Zitat, wie die Süddeutsche den folgenden Angriff des Correctiv-Vertreters (ich könnte so etwas nicht "Journalist" nennen) darstellt:
"'Volksbank Pirna', wirft Correctiv-Journalist Marcus Bensmann nur ein. Dort hat das BSW nämlich sein Spendenkonto. Und der Chef der Bank kritisiert, wie Wagenknecht, die EU-Sanktionen gegen Russland, und zählt Berichten zufolge den Pegida-Förderverein und russische Propagandisten zu seinen Kunden. Da dürfe man schon ein paar Fragen stellen, findet Welt-Journalist Robin Alexander, der ebenfalls mit in der Runde sitzt. Es sei einfach sehr schwierig gewesen, überhaupt ein Konto zu bekommen, und die Bank habe eine sehr liberale Politik und gute Konditionen, rechtfertigt sich Wagenknecht einmal mehr."
Kontenkündigungen sind mittlerweile ein beliebtes Mittel politischer Disziplinierung, insofern ist die Entscheidung logisch. Aber das ist dann die Hexenprobe – wenn man ein Konto bei einer Bank eröffnet, bei der man einigermaßen sicher sein kann, dass es nicht aus politischen Gründen wieder gekündigt wird, dann belegt man alleine durch diese Tatsache ein weiteres Mal, dass man wohl zu den Bösen gehören muss, weil bei dieser Bank … Frau ist nicht ordnungsgemäß ertrunken und muss folglich auf den Scheiterhaufen.
Nicht, dass sich durch diese immer häufiger werdenden Manöver die gesamte Politik in ein absurdes Theater verwandelt, das mit der traurigen Realität der Republik keinerlei Verbindung mehr hat, ist dabei das Schlimmste. Auch nicht, dass derart viele Medienvertreter und Politiker die minimalsten Grundsätze der Mitmenschlichkeit entbehren. Das wäre unschön, aber kommt vor in diesen Gewerben. Aber dass sie es geschafft haben, die eigentlich gebotene Menschlichkeit so sehr zum Vorwurf zu wenden, dass jemand wie Wagenknecht sich für ein Verhalten entschuldigt, das keinerlei Vergehen darstellt, das ist ein sehr schlechtes, ein düsteres Zeichen für den Zustand der Gesellschaft. Es ist die Art und Weise, wie in einer Umgebung, die geradezu hysterisch betont, wie wichtig ihr Individualität sei, das wirkliche Individuum durch den Mangel an Humanität zum Verstummen gebracht wird.
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