Was die Ukraine erwartet: Die Gnade des Siegers
Von Marina Achmedowa
Bittere Videos aus Awdejewka strömen derzeit in die Ukraine. Ukrainische Soldaten sind auf dem Rückzug und nehmen auf dem Weg Erinnerungsvideos für ihre Familien auf. Ein rothaariger Ordner geht die kaputte Straße entlang und sagt:
"Der Ring wird enger. Ich liebe euch alle."
Er wirft einen letzten Blick in die Kamera und man sieht Tränen in seinen Augen. Am anderen Ende muss seine Frau heulen.
Ein anderer Kämpfer führt einen Videoanruf mit seiner Schwester. Seine Einheit ist abgezogen, und sie – die Verwundeten – wurden auf Befehl ihrer Kommandeure zum Sterben in Awdejewka zurückgelassen. Das Gesicht der Schwester verzieht sich zu einer Fratze, sie weint und hebt den Blick nach oben. Wie soll sie ihm helfen? Allein ein russischer Soldat kann ihm helfen. Aber nur, wenn er die Großzügigkeit hat, dies zu tun.
Der Gnade des Siegers ausgeliefert sein, nennt sich das. Welch präziser Ausdruck! Erst jetzt, wo die sich vor meinen Augen abspielenden Ereignisse die Zukunft nachhaltig zu formen beginnen, wird mir bewusst, wie präzise die russische Sprache ist. Auf Barmherzigkeit gibt es keinen gesetzlichen Anspruch: Entweder der Gebende verschenkt sie oder er tut es nicht.
Drei Tage lang habe ich versucht, mit einem bekannten Kommandeur der Sturmtruppen zu sprechen. Aber er war zu beschäftigt in Awdejewka. Er versprach, sich am Freitag bei mir zu melden, und ich bereitete mich darauf vor, über Barmherzigkeit und Gnade für die Besiegten zu sprechen. Schließlich habe ich, wie viele andere auch, das Video gesehen, das tote ukrainische Kämpfer in einer blutroten Pfütze liegend zeigt. Aber ich weiß auch, dass es immer ein Risiko darstellt, einen ukrainischen Soldaten gefangenzunehmen. Ein sich angeblich Ergebender kann im letzten Moment eine Granate zücken oder dich erschießen. Und ich fühle mich nicht im Recht, unseren Soldaten etwas vorzuschreiben. Der Sturmtruppler hat sich nicht bei mir gemeldet.
Seit Freitag wehen unsere Fahnen überall in Awdejewka. Erst schien es, als ob sich die Kämpfe dort noch lange hinziehen würden, doch es kam so, als ob eine mächtige Kraft unsere Kämpfer emporhob und nach vorn trug. Der Sturmtruppler meldete sich auch am Samstagmorgen nicht – er war auf einem Sicherungseinsatz.
Irgendwo war ich auch froh, dass das Telefon nicht klingelte und ich nicht über Gnade und Barmherzigkeit reden musste.
Währenddessen beklagte sich Selenskij in München über den "künstlichen" Mangel an Munition und Waffen, der die Ukraine daran gehindert habe, Awdejewka zu halten. Und die Videos aus dieser Vorstadt von Donezk wurden von Stunde zu Stunde zahlreicher. Wir sahen auf ihnen, wie Ukrainer ihre Toten in stinkenden Gruben entsorgten und ihre Verwundeten im Stich ließen. Selenskij und sein Syrski sagten, sie hätten die Entscheidung getroffen, sich aus Awdejewka zurückzuziehen, um das Leben der Soldaten zu retten, aber die Videos, die ihr Militär aufnimmt, widerlegen dies.
Gestern sickerte auch ein Video aus Uschgorod durch, auf dem Frauen zu sehen sind, die Militäroffiziere verjagen und dabei schreien:
"Ihr müsst uns nicht beschützen!"
So ist es also, das ukrainische Hinterland. Es ändert sich, es schmilzt weg. Und das beschleunigt die Niederlage.
Auch in unserem Hinterland gibt es Änderungen. Der Rückzug aus dem Gebiet Charkow im Herbst 2022 war eine bittere Lektion für uns, aber wir haben unseren Soldaten damals nicht entgegengeschleudert: "Verteidigt uns nicht!" Die Russen zuhause taten im Gegenteil das, was sie historisch gesehen in schweren Zeiten immer getan haben – sie schlossen sich zusammen. Sie begannen, Netze zu weben und Drohnen zu montieren. Man gab dem russischen Soldaten Rückhalt und hielt ihm den Rücken frei. Nur so konnte er Awdejewka der Ukraine abringen.
Der Sturmsoldat rief mich erst am Sonntag an. Ich habe es nicht geschafft, mit ihm zu reden, ich habe nur gesagt:
"Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit."
"Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit", antwortete er. "Ohne die Unterstützung des Volkes hätten wir nicht so gut kämpfen können."
Wir unterhielten uns etwa fünf Minuten lang, und am Ende begann ich, über Gefangene zu sprechen, über Barmherzigkeit. Er blieb stumm. "Das ist ein anderer Krieg", dachte ich. Ich hatte überhaupt kein Recht, dieses Gespräch zu führen.
"Ich denke an meine Kämpfer", sagte er, "und an die, die gestorben sind. Ich kann die Männer nicht vergessen, mit denen ich vom selben Teller gegessen habe. Dieser Sieg gehört ihnen."
Der ukrainische Kämpfer, der sich per Videoanruf bei seiner Schwester ausgeweint hatte, hisste eine weiße Fahne. Die Schwester sah live, wie russische Soldaten ihn holten. Dabei riskierten sie ihr Leben. Dann schrieb sie in den sozialen Netzwerken:
"Mein Bruder ist seit zwei Jahren ohne Urlaub in Awdejewka, also müssen ihn jetzt Donezker Ärzte behandeln."
Donezker Ärzte werden ihn selbstverständlich behandeln. Und sie werden kein Wort darüber verlieren, wie oft Menschen, die durch aus Awdejewka abgeschossene Granaten und sonstige Geschosse jeden Kalibers verstümmelt wurden, auf demselben Operationstisch lagen. Donezker Ärzte sind großzügig.
Übersetzt aus dem Russischen.
Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin, Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation und seit Kurzem Chefredakteurin des Nachrichtenportals regnum.ru. Ihre Berichte über die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin und ihre Reisen durch die Krisenregion kann man auf ihrem Telegramkanal nachlesen.
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