Kiew forciert den Verkauf von Agrarland – entgegen ukrainischen Interessen
Von Alex Männer
Die Ukraine steht nach zwei Jahren Krieg sowohl militärisch als auch wirtschaftlich am Abgrund. Die ehemalige Sowjetrepublik verlor in dieser Zeit einen beträchtlichen Teil ihrer Wirtschaftskraft und ist heute fast ausschließlich auf die Finanzierung aus dem Westen angewiesen.
Die meisten Wirtschaftsprobleme entstanden allerdings nicht erst durch die russische Intervention. Vielmehr sind sie die Folge der prowestlichen Politik der Kiewer Führung, die nach dem "Euromaidan" 2014 relativ schnell eine gravierende Finanz- und Schuldenkrise in der Ukraine ausgelöst hatte. Seitdem wurde dieses von Korruption durchtränkte Land größtenteils durch Kredite des IWF, der Weltbank sowie die Subventionen der EU gestützt, die ihre Hilfsgelder an Bedingungen knüpfen und damit auf die ukrainische Wirtschaftspolitik maßgeblich Einfluss nahmen.
Eine der Voraussetzungen für die Finanzhilfen war eine neue Privatisierung im ukrainischen Agrarsektor, die in erster Linie den Kauf und Verkauf von Ackerflächen betraf. Zu dem Zeitpunkt verfügte die Ukraine mit mehr als 40 Millionen Hektar Ackerland über die größten landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in Europa und rund 25 Prozent der weltweiten Schwarzerdevorkommen.
Weil der Verkauf dieser Ressourcen damals gesetzlich jedoch verboten war, kam es in den Folgejahren zum sogenannten "Land Grabbing" – einer illegalen Aneignung von Agrarland durch internationales Großkapital, wie etwa multinationale Konzerne, Investmentfonds sowie andere ausländische (in der Regel westliche) Finanzstrukturen. Nach übereinstimmenden Medienberichten bekamen sie dank ihrer Verbindungen zu ukrainischen Oligarchen und anderen Vertretern der Elite die Kontrolle über einen großen Teil des fruchtbaren Landes der Ukraine, im Gegenzug erhielt die ukrainische Regierung weiterhin die Finanzierung aus dem Ausland.
Als Voraussetzung für noch mehr Zahlungen galt die Landreform 2020, die das bestehende Moratorium gegen Landkäufe in der Ukraine aufhob und so zunächst die Privatisierung von Ackerflächen für ukrainische Privatpersonen legalisierte. Dank ihrer Verbindung zu ukrainischen Oligarchen haben internationale Investoren dadurch indirekt die Möglichkeit erhalten, an weitere Agrarflächen zu kommen.
Im vergangenen Dezember wurde die Privatisierung nach einer zweiten Etappe der Landreform erneut liberalisiert: Ab dem 1. Januar 2024 können auch Unternehmen, deren Eigentümer Staatsbürger der Ukraine sind, Land kaufen. Zudem können jetzt 100.000 statt 10.000 Hektar Nutzfläche von je einer Person oder einem Unternehmen erworben werden.
Interessen der ukrainischen Agrarier gefährdet
Noch im Vorfeld dieser Gesetzesänderung hatte der ukrainische Minister für Agrarpolitik und Ernährung Nikolai Solski erklärt, dass man in der Ukraine "bequeme Regeln schaffen muss", die nicht schlechter sein sollten als in jenen Ländern, in denen bereits Geld in den Erwerb von Ackerflächen investiert wird. Dies verdeutlicht, schreibt die Nachrichtenagentur TASS, dass die ukrainischen Behörden den Verkauf von Agrarland an ausländische Investoren durchaus in Betracht ziehen, auch wenn die Gesetzgebung es derzeit noch nicht erlaubt.
Kritiker der Reformen verweisen darauf, dass einzelne Landwirte sowie kleine und mittlere Agrarbetriebe in der Ukraine dadurch ruiniert würden. Diese produzieren bis zu 60 Prozent der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, während die Großunternehmen nur ein Viertel der Produktion ausmachen. Dies könnte sich aber ändern, falls die ausländischen Akteure mithilfe der ukrainischen Oligarchen verstärkt dazu übergehen sollten, an noch mehr Anbauflächen zu kommen.
So eine Entwicklung würde das Ende der mittelständischen Produzenten bedeuten, und deswegen sei man gegen die Reformen der Regierung, betont der "Ukrainische Agrarrat" – ein Branchenbündnis aus mehr als 1.000 Unternehmen, dem insgesamt rund 3,5 Millionen Hektar Ackerland gehören. Der Rat hatte in Bezug auf die zweite Phase der Landreform in einer Online-Petition gefordert, diese Gesetzesänderung bis zum Ende des Konflikts mit Russland zu verschieben, da die ukrainischen Unternehmen aufgrund von logistischen Schwierigkeiten und den niedrigen Getreidepreisen schon das zweite Jahr in Folge finanzielle Verluste verzeichnen würden.
Laut dem kürzlich veröffentlichten Bericht des US-amerikanischen Oakland Institute "War and Theft: The Takeover of Ukraine's Agricultural Land" (zu Deutsch: Krieg und Diebstahl: Die Übernahme des Agrarlandes der Ukraine), in dem unter anderem die finanziellen Interessen und andere treibende Kräfte der Privatisierung näher beleuchtet werden, sollen ukrainische Oligarchen und internationale Großkonzerne inzwischen mehr als neun Millionen Hektar beziehungsweise mehr als 28 Prozent des ukrainischen Ackerlandes kontrollieren. Demnach seien hauptsächlich europäische und nordamerikanische Interessen sowie Staatsfonds aus Saudi-Arabien im Spiel.
Der Policy Director des Oakland Institute und Mitautor des Berichts Frédéric Mousseau bringt die dramatische Entwicklung im ukrainischen Agrarsektor wie folgt auf den Punkt: "Dies ist eine Lose-Lose-Situation für die Ukrainer. Während sie sterben, um ihr Land zu verteidigen, unterstützen Finanzinstitute heimtückisch die Konsolidierung des Ackerlandes durch Oligarchen und westliche Finanzinteressen. In einer Zeit, in der das Land mit den Schrecken des Krieges konfrontiert ist, müssen die Regierung und die westlichen Institutionen auf die Forderungen der ukrainischen Zivilgesellschaft, der Akademiker und der Landwirte hören und die Landreform sowie den derzeitigen Verkauf von Agrarflächen aussetzen." Denn es gehe darum, so Mousseau, ein Agrarmodell zu schaffen, "das nicht mehr von Oligarchie und Korruption dominiert wird", sondern das dazu verhilft, dass das "Land und die Ressourcen von allen Ukrainern kontrolliert werden und ihnen zugutekommen".
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