Meinung

Die Deutschen wollen Frieden mit Russland, die Machthaber sind aber Washington und Kiew verpflichtet

Die Demokratie ist kaputt. Die traurige Unbeliebtheit der herrschenden Eliten ist das verdiente Ergebnis ihrer Ignoranz gegenüber den wirklichen Sorgen ihrer eigenen Bürger.
Die Deutschen wollen Frieden mit Russland, die Machthaber sind aber Washington und Kiew verpflichtetQuelle: Legion-media.ru © Imago

Von Tarik Cyril Amar

Mit Beginn der Ukraine-Krise im Zeitraum 2013/14 haben die deutschen Regierungen, zunächst unter der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dann unter ihrem erbärmlichen Nachfolger Olaf Scholz (SPD), völlig versagt, wenn es darum ging, eine Lösung durch Kompromisse zu finden. Das ist keine Kleinigkeit und die Geschichte wird nicht gut auf Deutschland zurückblicken. Als Vertreter einer traditionell bedeutenden, wenn auch schrumpfenden und sich selbst schwächenden Macht in Europa hätte Berlin etwas bewirken können – und zwar möglicherweise etwas, das Hunderttausende von Menschenleben gerettet hätte.  

Doch die Dinge sind nun einmal, wie sie sind. Anfangs, unter der durch und durch opportunistischen, aber in der Regel intelligenten Merkel, war dieses deutsche Scheitern vor allem auf die Unterwürfigkeit gegenüber den Machthabern in den USA zurückzuführen, die aber in Berlins damals typischem Stil des Ausweichens praktiziert wurde.

Ja, Merkel hat Kiew geholfen, das Minsk-II-Abkommen von 2015 zu sabotieren, das einen großen Krieg zwischen Russland und der Ukraine hätte verhindern können. Aber sie tat dies heimlich und gab es erst im Nachhinein zu, als sie dafür kritisiert wurde, Russland gegenüber "weich" gewesen zu sein. "Nein, das war ich nicht", erwiderte sie im Wesentlichen, "ich habe meinen Teil getan und gelogen wie ein Straßengauner!". Was soll man dazu sagen? Die Vorstellungen von persönlicher Würde unterscheiden sich von Kultur zu Kultur.

Unter ihrem Nachfolger ab dem Jahr 2021, dem rein opportunistischen Olaf Scholz, sind die Berliner Ansätze zu einer gewissen elementaren Einfachheit zurückgekehrt. Die sogenannte "Zeitenwende", die er vor zwei Jahren mit traditioneller deutscher Bescheidenheit ankündigte, bedeutet, dass seine Koalitionsregierung Washington in einer beispiellos selbstschädigenden Weise gehorcht. Die Sabotage lebenswichtiger Infrastrukturen – Nord Stream – und die systematische Zerstörung der deutschen Wirtschaft durch Amerikas "Bettel-Vasallen-Politik" hat Scholz mit einem unterwürfigen Grinsen hingenommen, während er nationale Interessen nicht nur opferte, sondern mit dem Flammenwerfer durchbohrte.

Gleichzeitig – und mit einer gewissen Konsequenz, die man auch bei engagierten Masochisten beobachten kann – hat diese todessehnsüchtige Regierung auch die Beziehungen Deutschlands zu Russland mit teutonischem Furor und Gründlichkeit ruiniert. Und das alles, um einem ukrainischen Regime zu schmeicheln, das nun beschuldigt wird, Nord Stream in die Luft gejagt zu haben. Diese Anschuldigung ergibt keinen Sinn. Kiew liebt es zwar, das Schlimmste zu tun, das stimmt, aber ohne die USA hätte es das nicht geschafft.

Und doch ist diese Anschuldigung die neue Parteilinie, die über das Wall Street Journal verbreitet wird. Sie dient als weiterer Test dafür, wie viel öffentliche Demütigung Berlin ertragen kann. Antwort: Es gibt keine Grenze.

Aber Berlin ist nicht Deutschland. Eine Regierung, die in so bizarrer Weise keinen Bezug zu ihrem eigenen Land und dessen Interessen hat, wird ihre Bürger wohl kaum gut vertreten. Für einige ihrer Mitglieder ist das sogar ein Grund zum Stolz. Außenministerin und Geometrieexpertin Annalena "360 Grad" Baerbock erklärt seit langem, dass sie sich nicht darum kümmert, was ihre Wähler wollen, sondern nur darum, was das Selenskij-Regime verlangt. Baerbock muss sich also über die Ergebnisse einer aktuellen und soliden Meinungsumfrage gefreut haben. 

Die jüngste Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts INSA beweist, dass viele Deutsche die praktizierte Außenpolitik – vor allem in Bezug auf Russland und die Ukraine – nicht so sehen wie ihre derzeitigen, äußerst unpopulären und massiv versagenden (wie selbst The Economist einräumt) Machthaber. Hier einige Schlaglichter: 

Auf die Frage, ob sie für oder gegen Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland sind, sprachen sich 68 Prozent der Befragten dafür aus.

65 Prozent der Befragten halten es für eine "gute" oder "sehr gute" Idee, Moskau eine Gegenleistung anzubieten, bei der Russland einem Waffenstillstand und Verhandlungen zustimmt, während der Westen die Lieferung von Waffen an die Ukraine einstellt. Es ist eine andere Sache, dass Moskau ein solches Angebot wahrscheinlich nicht annehmen würde; diese Zeiten sind vorbei. Aber die Deutschen außerhalb der Berliner Elite bevorzugen eindeutig die Beendigung des Krieges anstelle des Szenarios eines ewigen Krieges, das die NATO und die EU offiziell fördern.

Eine deutliche Mehrheit der Befragten, nämlich 46 Prozent, ist laut Umfrage überzeugt, dass ihre Regierung nicht genug diplomatische Anstrengungen unternommen hat, um Deutschland vor der Gefahr eines Krieges zu schützen. Nur 26 Prozent befinden, dass Berlin genug getan hat.

Dabei gibt es für die Regierenden keine elementarere Pflicht, als alles zu tun, um die Bürger vor der Gefahr eines Krieges zu schützen. Das kann ihnen nicht immer gelingen. Aber wer sich nach allgemeiner Auffassung nicht genug bemüht, verliert seine Legitimation. Das wissen wir spätestens, seit der englische Politikphilosoph und Erzrealist Thomas Hobbes im siebzehnten Jahrhundert seinen "Leviathan" veröffentlichte.

Legitimität mag abstrakt klingen. Reden wir also über Wahlen, zumal drei wichtige Landtagswahlen anstehen. In den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg drohen den Berliner Koalitionsparteien schwere, ja verheerende Verluste durch zwei aufstrebende Newcomer, die sehr rechte AfD und das linke, aber kulturell konservative BSW, benannt nach ihrer Vorsitzenden Sahra Wagenknecht.

Könnte der Niedergang der Koalitionsparteien etwas damit zu tun haben, dass sie sich von den Wünschen und Ängsten vieler Wählerinnen und Wähler in Bezug auf die Außenpolitik entschieden distanziert haben? Auf jeden Fall. Auf die Frage in der INSA-Umfrage, ob die Forderung oder Nichtforderung nach Friedensverhandlungen für den Russland-Ukraine-Krieg für die Wahlentscheidung einer Partei ausschlaggebend ist, antworteten 43 Prozent der Befragten mit "ja". Der gleiche Anteil sagte "nein". Aber fast die Hälfte der Wählerschaft mit dem starken Gefühl zurückzulassen, dass man sich nicht um das kümmert, was ihnen wichtig ist – insbesondere in Fragen von Leben und Tod, d. h. Krieg und Frieden – ist niemals eine erfolgreiche Strategie.

Es stimmt, dass sich die Frage speziell auf eine Wahl auf Bundesebene bezog, also auf Deutschland als Ganzes. Die Landespolitik, so könnte man meinen, hat andere Prioritäten. Aber da liegen Sie völlig falsch. Zum Ersten nutzen die Deutschen ihre vielen Regionalwahlen gerne als Mittel, um die Bundesregierung abzustrafen. Die Wählerinnen und Wähler trennen nicht sauber zwischen lokaler Wahl und zentraler Abstrafung. Ganz im Gegenteil.

Zweitens wirken sich die Ergebnisse der Landtagswahlen daher ständig auf die Berliner Politik aus, und zwar bis in das kranke Herz einer ohnehin am Ende befindlichen Ampelkoalition. Drittens sind die Regionalwahlen im ehemaligen Ostdeutschland vor der westdeutschen Übernahme 1990 sogar noch neuralgischer, weil die Wähler dort in der Regel besonders skeptisch gegenüber der inzwischen erbärmlichen Unterwürfigkeit Berlins gegenüber den USA und der selbstzerstörerischen, wenn auch neotraditionellen Russophobie sind.

Deutschlands derzeitige Mainstream-Medien, Think-Tanks und akademische Kader – wie die konformistischen Historiker Jan Behrends und Ilko-Sascha Kowalczuk – lieben es, die Deutschen im Osten des Landes als im Wesentlichen rückständig und von den Russen einer Gehirnwäsche unterzogen zu karikieren, zu verharmlosen und zu bevormunden. (Übrigens, wenn Ihnen das seltsam bekannt vorkommt: So hat die Ukraine 2014 ihren lokalen Bürgerkrieg ausgelöst.) Dabei haben die Sowjets/Russen in Ostdeutschland schon seit über einem Dritteljahrhundert nichts mehr zu sagen, während Washington natürlich seinen Propagandazugriff beibehalten hat.

Vielleicht sollten sich die stolzen heimischen Kulturträger des NATO-"Werte"-Deutschlands, die gerne auf ihre östlichen Landsleute herabschauen, stattdessen mit ihrem eigenen Mangel an geistiger, politischer und ethischer Unabhängigkeit auseinandersetzen. Wo die Angst vor der Freiheit das Denken lähmt (und die Karrieren fördert), könnte ein wenig kantianisches Vertrauen auf das eigene Urteilsvermögen helfen.

In jedem Fall wird die Verharmlosung der Deutschen im Osten sie nur noch entschlossener machen – und das zu Recht – ihre wahrscheinlich freieren Gedanken zu wählen. Und was die freieren Gemüter in Deutschland erkennen, ist eine Regierung, die nicht ihrem Land, sondern den USA und der Ukraine dient.

Das ist ein Rezept für eine wohlverdiente Niederlage.

Übersetzt aus dem Englischen.

Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul. Er befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar.

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