
Europäische Traumtänze: Wie geht "Kriegstüchtigkeit" ohne USA?

Von Rainer Rupp
Die neoliberalen Globalisten in den Regierungsetagen vor allem in Berlin, Paris und London sehen sich derzeit an einem Scheideweg. Auf dem europäischen Kontinent haben sie die Wahl zwischen einer friedlichen Zukunft mit Russland oder einer kriegerischen gegen Russland.
Zunehmend sieht es jedoch danach aus, als ob sich die realitätsfernen Ideologen bereits entschieden haben. Anstatt den Weg in Richtung Verhandlungen mit Russland zu nehmen, um gemeinsam eine umfassende europäische Sicherheitsstruktur zu schaffen, die auf dem Grundsatz beruht, dass meine Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit des anderen ausgebaut werden darf, haben sich die Kriegstreiber in den EU-Hauptstädten für einen Kurs in die entgegengesetzte Richtung entschieden.

In den EU-Staaten haben sie die Weichen in Richtung einer Fortsetzung der Konfrontation, der massiven Aufrüstung und der umfassenden Indoktrination und Militarisierung der eigenen Zivilgesellschaft gestellt. Die massiven Aufrüstungsvorhaben gehen jetzt schon auf Kosten der Sozialleistungen und des zivilen Wohlstandes. In Zukunft wird dies noch schlimmer werden. Ohne eine EU-weite, ideologisch antirussische Indoktrination der eigenen Bevölkerung und einen militärisch-industriellen Gleichschritt in Politik und Wirtschaft werden die einzelnen Regierungen der EU-Staaten jedoch unmöglich als geschlossene Einheit den gemeinsamen Konfrontationskurs gegen Russland in ihren eigenen Ländern durchsetzen können.
Wenn dann auch noch Washington zugleich seine Beziehungen zu Moskau normalisiert und gute Geschäfte mit Russland macht, während die EU-Eliten für den Krieg trommeln und dafür Opfer von ihrer Bevölkerung verlangen, wird das Projekt "NATO-ohne-USA" eine Todgeburt. Zugleich ist im Vorfeld dieser Entwicklung mit zunehmend breiten Protestbewegungen zu rechnen. Um diese zu ersticken, werden die neoliberalen "Eliten" nicht davor zurückschrecken, die von ihnen bereits beschnittenen Bürgerrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit noch stärker zu unterdrücken als bisher.
Nach dieser Gesamteinschätzung wollen wir uns nachfolgend anhand eines Blicks in die Berichterstattung der sogenannten "Qualitätsmedien" und Denkfabriken (übersetzt: Regierungs- und NATO-Propagandisten) ein Bild davon machen, wie im Kollektiven Westen die Chancen und Möglichkeiten der Umstrukturierung zu einer "NATO-ohne-USA" gesehen und welche Mindestanforderungen dafür gestellt werden beziehungsweise welche Opfer von der Zivilbevölkerung erbracht werden müssten.
"Europa ohne die USA verteidigen": Erste Schätzungen dessen, was benötigt wird.
Unter dem englischen Originaltitel "Defending Europe without the US: first estimates of what is needed" hat die in Belgien beheimatete, renommierte "Denkfabrik" Bruegel zusammen mit dem deutschen "Kieler Institut für Weltwirtschaft" am 21. Februar 2025 einen Bericht veröffentlicht, in dem es heißt, dassEuropa kurzfristig 300.000 zusätzliche Soldaten und eine jährliche Erhöhung der Verteidigungsausgaben um mindestens 250 Milliarden Euro benötigt, um eine angebliche "russische Aggression" gegen Europa abzuschrecken. Von Deutschland wird erwartet, zu diesem Zweck jährlich die Hälfte, das heißt 125 Milliarden Euro zusätzlich für die Aufrüstung auszugeben.
Sodann wird in dem Bericht auf den designierten deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz verwiesen, der kurz zuvor erklärt hatte, es sei ungewiss, "ob wir in wenigen Monaten noch über die NATO in ihrer derzeitigen Form sprechen werden". Dem folgt die rhetorische Frage: "Kann die NATO ohne die Vereinigten Staaten überleben, die während der gesamten Geschichte der Allianz sowohl ihr führendes Mitglied als auch ihr wichtigster Sicherheitsgarant waren?"
Theoretisch "ja", lautete die Antwort, denn wenn die Trump-Regierung aus der NATO austreten würde, bliebe der Vertrag für die anderen 31 Mitglieder weiterhin in Kraft. Praktisch wäre die Rolle der USA in der Allianz jedoch schwer zu ersetzen, erst recht nicht binnen kurzer Zeit, so Bruegel. Der "Thinktank" verweist dann auf eine RAND-Studie von 2024, wonach alle NATO-Planungen darauf basieren, dass im Ernstfall die 100.000 bereits in Europa stationierten US-Soldaten um bis zu 200.000 weitere US-Soldaten verstärkt werden, und zwar primär durch schwere Panzereinheiten.
Ohne die USA bräuchte Europa deshalb eine Aufstockung um etwa 50 neue Brigaden, um diese Lücke zu schließen. Allerdings ist zu bedenken, dass die europäischen Streitkräfte zersplittert sind, während die US-Armee in großen, geschlossenen Einheiten mit straffer Befehlskette operiert. Zugleich sind die gesamte Organisation und die Befehlskette der NATO eindimensional auf die USA ausgerichtet.
Daher ist die Frage mehr als berechtigt, ob eine "NATO-ohne-USA" überhaupt bestehen kann. Zumal Europa aktuell vor einer der folgenreichsten Debatten seiner jüngeren Geschichte infolge der politischen Unsicherheiten durch die Trump-Administration steht; zugleich aber auch durch innenpolitische und prekäre ökonomische Entwicklungen die innenpolitische Stabilität der wichtigsten EU-Staaten sowie des Vereinigten Königreiches zunehmend unter Druck gerät. Vor diesem Hintergrund erinnert die Diskussion über eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik ohne die USA zunehmend an ein Wunschdenken, das in seinen internationalen politischen Folgewirkungen brandgefährlich sein kann.
Ein Bündnis im Wandel oder in Auflösung?
Die direkten Verhandlungen mit Russland über den Ukraine-Krieg ohne europäische Beteiligung haben das Vertrauen der neoliberalen EU-Eliten in Washington in ihren Grundfesten erschüttert. Um die angedachte "NATO-ohne-USA" und die dazu notwendige Aufrüstung mit gigantischen Kosten vor der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen, wird Russland von westlichen Politikern und Medien systematisch zum Angstfeind gemacht. Dazu werden schreckenerregende Zahlen über den neuen Erbfeind im Osten genannt, etwa dass das Land mit 700.000 Soldaten in der Ukraine kämpft, es seine Produktion auf 1.550 Panzer und 5.700 gepanzerten Fahrzeuge erhöht hat und vieles mehr.
Aber war es nicht der Stellvertreter-Krieg, mit dem die US/EU/NATO nach dem jahrzehntelangen Aufbau einer Drohkulisse Russland zur militärischen Sonderoperation am 24. Februar 2021 provoziert hatten? Seither haben die US/EU/NATO die Ukraine mit Waffen aller Art massiv unterstützt. Folglich musste Russland seine eigene Produktion entsprechend steigern. Die Tatsache, dass Russland das viel besser und mit weitaus weniger Geld geleistet hat und nun weitaus mächtiger als die Ukraine dasteht, wird Moskau nun von den US/EU/NATO-Kriegstreibern zum Vorwurf gemacht. Zugleich wird dies als Beweis dafür herangezogen, dass Europa aufrüsten müsse, um militärisch gegen Russland zu bestehen. Dadurch stellen die EU-Eliten – wie so oft – Ursache und Wirkung auf den Kopf.
Nun behaupten die Kriegstreiber in der EU, dass Russland nun die militärische Fähigkeit besitze, nach dem Sieg über die Ukraine weiterzumarschieren und sich die östlichen EU-NATO-Mitgliedsländer einzuverleiben. Dazu gibt es Berichte über angebliche "Erkenntnisse" der Geheimdienste europäischer NATO-Länder, wonach russische Angriffe gegen EU-Mitgliedsstaaten innerhalb der nächsten drei bis zehn Jahre möglich wären. Sinn und Zweck dieser Angstmache ist es, die Bereitschaft in der Bevölkerung zu steigern, größere Opfer für die Aufrüstung zu bringen, denn die militärischen Ziele der "NATO-ohne-USA" sind enorm.
Laut der erwähnten Studie des Bruegel-Instituts müssten die NATO-EU-Länder ihre Streitkräfte um mindestens 300.000 Soldaten aufstocken und etwa 50 neue Brigaden, vor allem mechanisierte und gepanzerte Einheiten schaffen, um die Lücke zu stopfen, die durch den Rückzug der Amerikaner entstehen würde. Dafür müssten die Militärausgaben in NATO-ohne-USA auf 3,5 Prozent des BIP angehoben werden. Aber auch dann würde ein Vergleich der militärischen Fähigkeiten mit denen der Russen klare Schwächen aufseiten der Europäer zeigen, angeblich mit Ausnahme der Luftstreitkräfte einiger EU-Staaten.
Ungeachtet der russischen militärtechnologischen Revolution in den vergangenen 20 Jahren, die auch in der russischen Luftwaffe stattfand, beharren westliche Medien wie Newsweek auf der alten Mär aus Kalter-Krieg-Zeiten von der westlichen Luftüberlegenheit und führen als Beweis "moderne" europäische Jets wie den Rafale und den Eurofighter an. Zudem scheint die mit Abstand weltbeste Luftabwehr der Russen bei Newsweek keinen Einfluss auf die Einschätzung der westlichen, angeblichen Luftüberlegenheit gehabt zu haben, denn die Luftabwehr fällt bei diesem Vergleich gänzlich unter den Tisch.
Bei den Landstreitkräften habe Europa weniger als 900 Panzer aufzubieten – gegenüber Russland mit 2.730. Auch bei U-Booten falle Europa hinter den 51 von Russland zurück. Die nukleare Abschreckung sei ebenfalls begrenzt, obwohl Großbritannien und Frankreich über jeweils rund 300 Sprengköpfe verfügen, während Russland das größte Arsenal weltweit besitzt. Ohne US-Unterstützung fehlen zudem die militärische Satelliten-Aufklärung, umfassende Geheimdiensterkenntnisse durch SigInt und Luftbetankung (RUSI), was den Einsatzradius der rein europäischen Luftwaffen beschränken würde.
Strategische Vorschläge
- Finanzierung: Bis 2027 will Großbritannien 2,5 Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben, was etwa 16 Milliarden US-Dollar jährlich zusätzlich entspricht. Die EU plant, eigenständig 150 Milliarden Euro am Finanzmarkt zu leihen (wozu sie kein Mandat hat) und die Gesamtsumme über zehn Jahre auf insgesamt 650 Milliarden Euro auszuweiten, um sie zusätzlich zu den nationalen Rüstungsausgaben bereitzustellen. Dazu müssen allerdings noch die rechtlichen Voraussetzungen für diese Ausnahmen von EU-Haushaltsregeln geschaffen werden.
- Militärischer Aufbau: Programme wie das Global Combat Air Programme (GCAP) mit Großbritannien, Italien und Japan zielen auf Kampfflugzeuge der sechsten Generation in zehn Jahren ab.
- Nukleare Abschreckung: Frankreich gibt sich der Illusion hin, es könne die Abschreckung mit seinen Nuklearwaffen auf andere Länder ausweiten. Großbritannien hat das Handicap, dass die Trident-Raketen in seinen U-Booten aus amerikanischer Herstellung stammen und ihr Einsatz die Zustimmung der USA benötigt.
- Energiesicherheit: Mehr erneuerbare Energien und Kernkraft sollen die Abhängigkeit von Russland und USA verringern.
- Laut Reuters sollten Deutsche eine stärkere Führungsrolle übernehmen. Das erinnert an das NATO-Kalter-Krieg-Motto: "Germans to the Front!"
Die Umsetzung dieser hochtrabenden Pläne ist mit Hindernissen gespickt. Der Aufbau der Kapazitäten könnte ein Jahrzehnt und mehr dauern, und die Koordination zwischen Europas fragmentierten Armeen ist schwierig. Die Kosten belasten die Haushalte, besonders in hoch verschuldeten Ländern (siehe IMF-Tabelle). Politisch fehlt oft der Konsens, wie Frankreichs NATO-Rückzug 1966 zeigt. Zudem bräuchte auch die NATO-ohne-USA weiterhin in wichtigen militärischen Bereichen eine enge Zusammenarbeit mit den USA. Zugleich könnte ein chaotischer US-Rückzug die NATO vollkommen destabilisieren.
In jüngster Zeit führen Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die nordischen Länder informelle Gespräche, wie die Verteidigungslast in fünf bis zehn Jahren aufgeteilt werden soll. Vor dem NATO-Gipfel im Juni 2025 in Den Haag soll ein Übergangsplan vorgelegt werden. Die NATO fordert zudem eine 30-prozentige Erhöhung der Waffen- und Munitionsvorräte. Doch Analysten zweifeln, ob vor dem Hintergrund des zunehmend fragwürdigen Zusammenhalts der Staaten in der Europäischen Union die EU überhaupt dazu fähig ist, die Rolle der USA in der NATO zu übernehmen.
Fazit
Die Debatte über eine NATO ohne die USA markiert einen Wendepunkt für Europa. Mit ihrem neuen Streben nach strategischer Autonomie stehen die neoliberalen Eliten in Europa vor der Herausforderung, die geplante Hochrüstung zu finanzieren, ohne den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu zerstören. Doch nicht nur die Finanzierung, sondern auch die Koordination der Befehlsketten, die Organisation der Hochrüstung und die Bereitschaft der Lastenaufteilung bleiben massive Stolpersteine auf dem Weg zu einer eigenständigen "Kriegstüchtigkeit" ohne die USA. Dadurch wird sich Europas militärische, politische, wirtschaftliche und soziale Zukunft nachhaltig verändern. Allerdings ganz bestimmt nicht zum Besseren.
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