Meinung

Unfassbare Zustände in Moskau: Ich bin erschüttert!

Der Autor dachte, ihn könne in Moskau nichts mehr schockieren. Am Mittwoch wurde er eines Besseren belehrt: Seitdem schwankt er zwischen Sprachlosigkeit und nicht aufzuhaltender Redseligkeit. Vorsicht! Der Text ist nichts für schwache Nerven der von Baustellen geplagten Deutschen.
Unfassbare Zustände in Moskau: Ich bin erschüttert!Quelle: RT © M. Mischin / Pressedienst des OBM und der Regierung von Moskau

Von Alexej Danckwardt

Ich dachte, mich kann in Russland nichts mehr erschüttern. Nicht nach 160 Kilometern in nur 10 Jahren neu gebauter und eröffneter Metrolinien in Moskau. Die Metro feiert in diesen Tagen übrigens ihren 90. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch! 

Wie gesagt, schockieren kann mich kaum etwas. Wir sind es inzwischen gewohnt, dass in Russland das Bauen Ruck-Zuck geht, kein Vergleich mit Jahrzehnten Planung und nochmals Jahren Verzögerungen und Kostenwucher bei jedem noch so kleinen Projekt in Deutschland. Aber am gestrigen Tag spülte der Informationsbot des Moskauer Nahverkehrs eine Nachricht ins Postfach, die mir den Atem stocken ließ.

Hier der Sachverhalt: Am 12. September 2024 veröffentlichte die Moskauer Stadtverwaltung Pläne für den Bau einer neuen Straßenbahnlinie mitten im Herzen der Stadt – von den Drei Bahnhöfen (Russ. Tri Woksala) zu den Sauberen Teichen (Russ. Tschistye Prudy). Als ich das letzte Mal im Februar des laufenden Jahres in der Gegend war, es gibt übrigens nur einen Teich dort, war von Bauarbeiten noch nichts zu sehen. Und gestern... Gestern kam die Meldung, dass die Bestandsstrecke zu den Sauberen Teichen – viele Jahrzehnte der einzige Rest des einst dichten Netzes innerhalb des Gartenrings – für einige Wochen unterbrochen wird, um die Neubaustrecke an sie anzuschließen. 

Ungläubig stürmte ich in das Fachforum für die russischen Metros und den sonstigen Nahverkehr und tatsächlich, wo im Februar noch nicht einmal eine Baustelle war, im gesamten Verlauf der 2,5 Kilometer langen Neubaustrecke, liegen bereits Gleise. Baubeginn war, wie sich herausstellte, im März. 

Besonders ist dies auch deshalb, weil die Straßenbahn viele Jahrzehnte lang das Stiefkind der Moskauer Stadtväter war. Seit den 1930er-Jahren wurde sie von immer mehr Straßenzügen zugunsten von Individualverkehr und "modernen Verkehrsmitteln" wie Bus und Trolleybus zurückgezogen. Die Lücke zwischen den Drei Bahnhöfen (am Platz liegen tatsächlich drei Bahnhöfe) und den Sauberen Teichen klaffte seit Eröffnung der ersten Metrolinie vor genau 90 Jahren, die hier die Straßenbahn ersetzte. So ging es weiter, nicht immer im Zusammenhang mit dem Metrobau, bis im historischen Zentrum nur die eine Linie vom Pawelezer Bahnhof über den Boulevardring zu den Teichen übrig geblieben war. 

Jetzt, nach 90 Jahren, wird die Lücke wieder geschlossen, allerdings nicht auf historischer Trasse. In den 1980er-Jahren wurde durch die Bebauung parallel zur alten Fleischerstraße (Russ. Mjasnizkaja Uliza) eine breite Autoschneise zwischen den besagten Drei Bahnhöfen und dem Boulevardring geschlagen, die heute teils Sacharow-Prospekt, teils Maria-Porywajewa-Straße heißt. Auf diesem Straßenzug steht das weltbekannte Bauwerk von Le Corbusier.

Nach der ursprünglichen Planung sollte die Schneise weiter stadteinwärts geschlagen werden, bis zum Lubjanka-Platz mit der KGB-Zentrale. Das wurde jedoch nicht mehr umgesetzt, der Prospekt endet bis heute am Boulevardring. Zwei der acht Fahrspuren treten die Autos nun an das umweltfreundlichste aller Verkehrsmittel ab – eine vollständige Umkehrung des bisherigen Trends. Noch unter dem Amtsvorgänger von Sergei Sobjanin, dem inzwischen verstorbenen Juri Luschkow, verschwand die Tram von vielen Ausfallstraßen, um zusätzlichen Fahrspuren Platz zu machen.

Und auch unter Sobjanin trat man beim Thema Tram-Renaissance lange Zeit auf der Stelle und begnügte sich mit kurzen Neubaustrecken – wir hatten berichtet. Nun scheint aber tatsächlich eine neue Ära für Moskaus Tram angebrochen zu sein.  

Als Maß aller Dinge im Straßenbahnbau und Musterknabe der Reaktivierung des einst voreilig verbannten Verkehrsmittels galt bislang Frankreich. Dort nimmt der Bau moderner Straßenbahnstrecken zwischen Planungsbeginn und feierlicher Einweihung gewöhnlich so ziemlich genau eine Wahlperiode der örtlichen Stadträte – fünf Jahre – in Anspruch. Deutschland kann von solchen Fristen nur träumen: Berlin, wie steht es eigentlich um die Straßenbahn zum Hermannplatz? Zum Ostkreuz? Ist in Köln der zweite Nord-Süd-Tunnel endlich fertig?

Wenn in Moskau das jetzt eingeschlagene Tempo beibehalten wird, wird der bahnbrechende Lückenschluss im Spätsommer oder Frühherbst 2025 (und damit knapp ein Jahr nach Vorlage der Entwürfe und offenbar keine zwei Jahre nach Beginn der Planungen) in Betrieb gehen. Ohne dass dieses Jahr Wahlen anstehen, übrigens. Kann man es mir da verübeln, dass ich schockiert und erschüttert bin? 

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