"NATO ist die größte Bedrohung für Europa" – Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin
von Hasan Posdnjakow
Vor hundert Jahren erschossen Freikorps im Rahmen einer vom sozialdemokratischen Reichswehrminister Gustav Noske geführten Kampagne die Spartakisten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Zwei Wochen vorher hatten sie die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet. Seit den 1990er-Jahren findet in Berlin jährlich eine Konferenz im Andenken an die polnisch-jüdische Revolutionärin Luxemburg statt, die maßgeblich von der Tageszeitung junge Welt organisiert, aber auch von vielen anderen linken Organisationen unterstützt wird. Tausende Linke strömten in das Hotel Mercure in Moabit, wo die Konferenz stattfand.
Dieses Jahr stand der Ausspruch Luxemburgs "Sozialismus oder Barbarei" im Mittelpunkt. Die Konferenz drehte sich laut der Ankündigung um "die nächste Krise, [den] nächste[n] Krieg" und "die nächste Revolution". Den ersten Vortrag hielt der Publizist Otto Köhler. Er widmete sich der Frage, wer die nächste imperialistische Hauptmacht sein wird. Seine Antwort: Deutschland. Köhler mahnte, dass die Kriege seit 1871 stets von Deutschland aus geführt wurden. Er prangerte den preußischen und mit ihm eng verbundenen deutschen Militarismus an. Auf die "Fliegenschiss"-Aussage des AfD-Politikers Alexander Gauland anspielend, sagte Köhler, Deutschland sei ein
Adlerschiss, der immer noch zum Himmel stinkt.
Während seines Vortrages setzte er allerdings immer wieder Deutschland mit der westlichen Bundesrepublik gleich, ohne auf die Deutsche Demokratische Republik einzugehen, die beanspruchte, der erste deutsche Friedensstaat zu sein, und immerhin bis in die 1970er-Jahre auch den Anspruch erhob, ganz Deutschland zu vertreten. Auch erwähnte er nicht das Verhältnis des deutschen Imperialismus zur NATO und zum US-Imperialismus. Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass der deutsche Imperialismus im luftleeren Raum existiert.
Sogar als Köhler über die "Wiedergeburt" des deutschen Imperialismus nach 1945 sprach, ging er nicht hinreichend auf die führende Rolle des US-Imperialismus dabei ein. Er suggerierte, die USA wären nicht von allein auf den Gedanken gekommen, die deutschen Großkonzerne und Militärs wieder an die Macht zu bringen, sondern dies sei ihnen von den deutschen Generälen untergejubelt worden. Insgesamt bewegte sich sein Vortrag zu sehr an der Oberfläche des Phänomens, das er beschreiben wollte, und er begrenzte sich auf eine agitatorische Polemik, ohne auf die wirklich interessanten Hintergründe der deutschen Vorherrschaft in Europa einzugehen, etwa die wirtschaftlichen Entwicklungen im Euroraum.
Dieses Manko korrigierte erfreulicherweise der nächste Vortrag des italienischen marxistischen Ökonomen Vladimiro Giacché. Er stellte fest, dass in den letzten Jahrzehnten die Wachstums- und Investitionsraten in den entwickelten kapitalistischen Staaten beständig gefallen sind. Parallel dazuhabe es ein Wachstum des spekulativen Kapitals gegeben.
Seit den 1970er-Jahren wirke sich die Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht mehr auf die Höhe der Löhne aus. Die ausfallenden Lohnerhöhungen seien durch Kredite ausgeglichen worden. So wurde laut Giacché mittelfristig sichergestellt, dass die Familien mit mittlerem Einkommen trotzdem weiterhin ungehindert konsumieren konnten. Das habe ebenfalls die Überproduktionskrise hinausgezögert.
Zugleich hätten die Kapitalisten aufgrund der Investitionskrise mehr in spekulatives Kapitals statt in die Realwirtschaft investiert. Das Wirtschaftswachstum in den USA und in Nordeuropa sei mit den wachsenden Widersprüchen etwa in Südeuropa bezahlt worden, die dann in den Jahren ab 2007 zur Großen Wirtschaftskrise führten. Als Beispiel für so einen Prozess nannte er die Exportwut der deutschen Industrie.
Im Jahr 2007 sei dann eine Epoche zu Ende gegangen, in der das zinstragende Kapital irgendwie noch zum Produktionswachstum beitragen konnte. Seitdem sei dies immer weniger der Fall. Die westliche selbsternannte Elite habe geglaubt, dieses Modell durch Maßnahmen wie die teuren Bankenrettungen und den Ankauf von Schrottpapier seitens der Zentralbanken wieder restaurieren zu können. Dies sei jedoch ein Irrtum.
Seit der letzten Krise habe sich die globale Verschuldung weiter dramatisch verschlechtert. Erneut seien Symptome einer Spekulationsblase zu beobachten, die bald platzen werde. Zu diesen Symptomen zählte er unter anderem die Divergenz zwischen den Aktienwerten und den realen Profiten einiger wichtiger Unternehmen und das Wiederkaufen der eigenen Aktion seitens einiger Unternehmen, um die eigenen Aktienpreise in die Höhe zu treiben.
Die nächste Krise könnte laut Giacché viele mögliche Auslöser haben, etwa eine Schuldenkrise in einem aufstrebenden Land oder Insolvenzen in der Privatwirtschaft, jedoch werde wie schon im Jahr 2007 eine plötzliche Abnahme der Liquidität das Hauptthema sein. Es gebe vier mögliche Auswege, die er mit Ausdrücken der Computer-Terminologie umschrieb:
1) "Restart": die Wirtschaft nach einem Systemfehler ohne grundlegende Änderungen erneut wieder laufen zu lassen. Das habe sich nach der Großen Krise vor elf Jahren als nicht sehr erfolgreich erwiesen.
2) Ein "Shift" weg vom zinstragenden Kapital hin zum produktiven Kapital. Das einzige Projekt, das in diese Richtung gehe, sei derzeit die Neue Seidenstraße Chinas. Ein derartiger "Shift" benötige jedoch riesige Kapitalmengen.
3) Ein physischer "Reset", also ein großer Krieg oder Konflikt, der zu einer massiven Zerstörung führt.
4) Ein neues Betriebssystem, womit er den Sozialismus umschrieb. Das sei die einzige folgerichtige Deutung der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre und die einzige Möglichkeit, die Fehler im Wirtschaftssystem nachhaltig zu lösen.
Zum Ende seines Vortrages betonte Giacché, dass es eine Illusion sei, zu glauben, die EU könne uns vor der Globalisierung schützen, da sie selbst ein sehr gutes Beispiel für ebenjene neoliberale Globalisierung sei. Der Kampf gegen Globalisierung sei auch ein Kampf gegen die EU.
Anschließend erläuterte der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson das Thema "der nächste imperialistische Krieg". Ihm zufolge sind Al-Qaida, der IS und andere extremistisch-sunnitische Gruppen die Fremdenlegion der USA. Die Militärstrategie der USA sei es, Chaos zu erzeugen, da dadurch der Eingriff in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einfacher werde. Die Demokratische Partei sei die Hauptstütze dieser Politik.
Im Vietnamkrieg hätten die USA gelernt, dass mittlerweile Landinvasionen anderer Staaten sehr kostspielig seien. Die dafür benötigten Truppenstärken können laut Hudson nur durch eine Wehrpflicht gestellt werden, die jedoch sehr unbeliebt sei. Daher sei die USA dazu übergegangen, andere Staaten durch andere Wege zu bekämpfen, wo möglich jedoch nicht direkt mit Bodentruppen zu besetzen.
Die Hauptform von Konflikten seien mittlerweile finanzielle Auseinandersetzungen. Die USA würden andere Länder mit finanzieller Zerstörung bedrohen, und zwar unter dem Deckmantel des Internationalismus. Die Mittel dafür seien die internationalen Finanzorganisationen wie der Weltwährungsfonds oder die Weltbank.
Seit Anfang der 1970er-Jahre hätten die USA vor dem Problem gestanden, ihre Kriege weiter zu finanzieren, da ihnen das dafür notwendige Gold ausgegangen sei und ihre Zahlungsbilanz schlecht aussah. Die USA hätten dieses Problem gelöst, indem sie den anderen Ländern statt Gold nunmehr US-Staatsanleihen gaben. Somit wurden ihm zufolge Länder wie China und Russland ungewollt zu Finanziers der US-Angriffskriege.
Der Dollarstandard sei ein Mittel, andere Staaten dazu zu zwingen, die US-Kriege zu finanzieren. Daher gehe es bei den Schritten, die China, Russland und viele andere Staaten eingeleitet haben, um die Stellung des Dollars zu schwächen, nicht nur darum, die Macht von US-Finanzsanktionen zu umgehen.
Der Druck der USA auf Deutschland, Fracking-Gas und US-Kriegsgerät zu kaufen, lasse sich damit erklären, die US-Zahlungsbilanz zu verbessern.
Die NATO sei die größte Bedrohung der europäischen Sicherheit. Die mögliche Stationierung von US-Mittelstreckenraketen nach Europa sei dafür ein gutes Beispiel, da sie Europa zum Ziel russischer Gegenmaßnahmen machen würden. Während US-Mittelstreckenraketen in Europa das Kernland Russlands erreichen könnten, sei dies für die russischen Raketen nicht möglich.
Hudson erklärte, die Außenpolitik der USA im Nahen Osten werde wesentlich von Saudi-Arabien und rechtsradikalen proisraelischen Gruppen bestimmt. Den Grundstein dieser Entwicklung habe die Carter-Regierung in den 1970ern gelegt, als sie beschloss, Bin Laden und ähnliche Gestalten gegen die sowjetische Armee in Afghanistan zu unterstützen. Das sei ein Modell für den US-Präsidenten Bill Clinton gewesen, in den 1990er-Jahren sunnitische Extremisten in Jugoslawien zu unterstützen. Jugoslawien sei ideologisch für die USA eine größere Bedrohung gewesen als die Sowjetunion, da es Jugoslawien gelungen sei, einige Probleme des Sozialismus in der Sowjetunion zu vermeiden.
Die USA strebten danach, die europäische Linke daran zu hindern, den Finanzkapitalismus anzugreifen und sich mit den alternativen Projekten Russlands und Chinas zu solidarisieren. Der heutige "Internationalismus" einiger Akteure sei in Wahrheit ein US-Nationalismus in Form der internationalen Finanzorganisationen. Der Widerstand dagegen müsse zwangsläufig auch patriotische Formen annehmen, auch in Europa.
Weitere Redner waren die deutsche Journalistin kurdischen Ursprungs Meşale Tolu, die monatelang in der Türkei inhaftiert war, der ehemalige kubanische Kulturminister Abel Prieto und der Autor und Journalist Dietmar Dath, der über die "nächste Revolution" referierte.
Abgerundet wurde das Programm von einer Podiumsdiskussion zur Frage "100 Jahre Novemberrevolution – wie geht Klassenpolitik heute", an dem der Linken-Politiker Ulrich Maurer, der Gewerkschafter Jan von Hagen, die Mietenaktivistin Nina Scholz sowie die Vorsitzende der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend Lena Kreymann teilnahmen. Neben diesen politischen Gesprächen gab es wie jedes Jahr ein reiches kulturelles Begleitprogramm. Direkt im Anschluss an die Rosa-Luxemburg-Konferenz veranstaltete die Deutsche Kommunistische Partei ihr traditionelles Luxemburg-Liebknecht-Lenin-Treffen. Dort sprachen unter anderem Patrik Köbele, der Vorsitzende der DKP, ein Vertreter der portugiesischen Kommunistischen Partei sowie ebenfalls Abel Prieto und Dietmar Dath.
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