2019 – Das Jahr, in dem die USA die Rückeroberung Lateinamerikas starteten
von Luis Gonzalo Segura
In den vergangenen zwei Jahren, seit Donald Trump die Zügel des US-amerikanischen Planwagens übernahm, trafen die Vereinigten Staaten etliche geopolitische Entscheidungen, die bisweilen widersprüchlich, doch fast immer umstritten waren. Mit die wichtigste dieser Entscheidungen war, sich weniger im Nahen Osten zu engagieren und nach Lateinamerika zurückzukehren. Mit dem Ergebnis, dass der amerikanische Kontinent in diesem Jahr enorme Turbulenzen erlebte, bei denen die Nordamerikaner in bester Wildwest-Manier Land für Land in einem verrückten Abenteuer überfielen, das Dutzende von Toten, Verletzten und Gefolterten hinterließ – doch vor allem das Gefühl des Zerbrechens, des Zusammenbruchs: Lateinamerika brach weit schneller zusammen, als man es sich vorstellen und erwarten konnte. Eine mehr als interessante und sorgfältig gedrehte Fernsehserie, dabei allerdings eine kontinentale Tragödie, in der noch einige Kapitel zu erzählen sind.
Mittelamerika, die neue Grenze der USA
Mittelamerika war eines der Hauptziele der nordamerikanischen Banditen. Mit vorgehaltener Pistole drohten sie vor allem Mexiko mit einem Wirtschaftskrieg, der dieses große Land in eine dramatische Situation gestürzt hätte, hätte es sich nicht in die neue Grenze der Vereinigten Staaten verwandelt. Eine Grenze mit einer Fläche von fast zwei Millionen Quadratkilometern und 125 Millionen Mexikanern als "Grenzpolizisten", in der man alle Migranten interniert, die vor der Armut flüchten, die wiederum ausgerechnet die Folge der Ausbeutung durch die Großkonzerne und das Großkapital mehrheitlich US-amerikanischer Herkunft ist. Doch selbst das, selbst dieses Grenzgefängnis schien dem Yankee-Kolonialherren zu klein, sodass er es noch um Guatemala, Honduras und El Salvador erweiterte.
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Der weltweite Kampf gegen das Böse: Kuba und Venezuela
Der Kampf gegen die Reinkarnation des Bösen auf dem Planeten Erde war ebenfalls eines der Ziele der rächenden Superhelden aus Nordamerika: Auf Kuba und Venezuela hatte er daher seine Waffe gerichtet. Doch die Bösewichte fielen nicht. Sie halten der Belagerung und den Einschüssen stand, so gut sie können. Kuba, das wieder auf halbem Weg zurück in die Zeiten der Blockade ist, und Venezuela, das sich in einer wahrhaft surrealen Situation befindet. Ich bin gewiss kein Freund von Staatsstreichen. Aber man kann nichts anderes als Scham empfinden beim Putsch von Juan Guaidó. Denn einen Putsch ohne die Unterstützung des Militärs zu starten, ist ungefähr so, als würde man ein Fußballspiel mit einem imaginären Ball veranstalten. Da steht er nun – und einige hundert Millionen Leute –, überzeugt davon, der Präsident Venezuelas zu sein. Ein imaginärer Präsident, mit einem imaginären Putsch und einem imaginären Militär. Verrückt – doch weniger, als man denkt. Denn hätte man vor nur fünf Jahren einen Film mit einem solchen Plot gedreht, dann hätte ihn vor lauter Durchgeknalltheit noch nicht einmal die Familie des Regisseurs sehen wollen. Doch dafür haben wir die westlichen Leitmedien. Sie arbeiten hart daran, dass der normale Bürger das Ganze ganz normal findet. Und sie kommen damit durch.
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Alles für die Menschenrechte, die die Nordamerikaner fast ununterbrochen verteidigen. Außer wenn sie sich – zwischen Nobelpreisen und sonstigen weltweiten Anerkennungen – Anfälle von Ertränkungen mit nassen Handtüchern und mittelalterliche Kerker wie in Guantánamo und etlichen anderen dunklen und feuchten Höhlen erlauben. Batman forever!
Der Überfall auf Südamerika
Das, was ich hier berichtet habe, sind geopolitische Ereignisse, die für einen Zeitraum von fünf Jahren ausreichend wären, doch bei Donald Trump dauerte das alles weniger als ein paar Monate. So sieht es aus, wenn man sorgfältige Analysen zur Beherrschung der Welt im Stile eines Kissinger gegen Tweets mit einigen Hundert Zeichen eintauscht. Kissinger hätte es nicht einmal eine Woche bei Trump ausgehalten. Einige Tweets, höchstens. Also überfielen die USA auch noch Südamerika und steckten es in Brand.
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Zum bereits erwähnten Venezuela kam nun noch der Angriff auf Bolivien hinzu, das sich nach einem bilderbuchmäßigen Staatsstreich den schamlosen Wünschen der Nordamerikaner fügte. Allerdings ebenfalls nicht ohne eine gehörige Portion Surrealismus, angesichts der unbeschreiblichen "Selbsternennung" im Namen und mit der Heiligen Schrift, einer übergroßen Bibelausgabe, die Jeanine Áñez in die Präsidentin des Landes verwandelte. Bolivien, das nunmehr einem Szenario irgendwo zwischen Spaghetti-Western und Dracula-Film im B-Format gleicht, erlebt auch prompt seine ersten Klagen über Vetternwirtschaft, nachdem eine Tochter der Präsidentin, Carolina Ribera, im Kommunikationsministerium unterkam. Allem Anschein nach ist mit weiteren Folgen zu rechnen. Netflix wird hier voll auf seine Kosten kommen.
Auf der gleichen Linie, nur in die Gegenrichtung, laufen die Dinge in Ecuador und Chile. Beides Länder mit geschichtsträchtigen Ereignissen im Jahr 2019. Ecuador und Chile fanden sich inmitten massiver sozialer Protesten wieder, denen mit enormer Brutalität begegnet wurde: Gewalt, Mord und Totschlag, sexuelle Belästigungen, Vergewaltigungen, ... Echte Horrorfilme, bei denen etliche Medien die alte Geschichte vom "guten Cowboy" und dem "bösen Indianer" auftischen. Nur wissen viele seit einiger Zeit, dass John Wayne und die Seinen keineswegs die Guten im Film waren, sondern jene, die Dutzende von Völkern ausgerottet hatten.
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Kolumbien erlebte die Wiederkehr der Zeiten von "falsos positivos", Zeiten, in denen Militär und Polizei unschuldige Zivilisten töteten [die sie für Erfolgsprämien als angebliche Guerilleros präsentierten – Anm. Red.]. Schließlich entschieden sich angesichts der uneingelösten Versprechungen des kolumbianischen Staates Teile der Guerilleros für die Rückkehr in den Busch – und in den Kampf. Und Brasilien kehrt zurück in die Zeiten der außergerichtlichen Hinrichtungen in den Elendsvierteln (Favelas) und der Todesschwadronen. Angeführt von Jair Bolsonaro, einem Ex-Hauptmann des Heeres und Bewunderer der Militärdiktatur, wäre es allerdings verwunderlich, wenn es nicht so gekommen wäre.
Alles in allem war 2019 also ein Jahr des Revivals. Der Geister der Vergangenheit, der Rückkehr der Diktaturen, des Flugs des Condors [US-gestützte "Operation Condor" in den 1970/80er Jahren gegen linke Regierungen – Anm. Red.], die nicht nur den Aktionen der Nordamerikaner nach ihrem Umschwenken im Nahen Osten zu verdanken sind: Auch die Linke trägt einen großen Teil der Verantwortung in der Angelegenheit.
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Allein 2019 konnte Andrés Manuel López Obrador, der Präsident Mexikos, im Hintergrund die Säbel rasseln hören und wurde Evo Morales, sein Amtskollege in Bolivien, durch die Positionierung der Militärs gestürzt. Positionierungen der Militärs, die andernorts das Überleben der dortigen Regierungen garantiert haben – in Chile, Ecuador ... und in Venezuela. Die Streitkräfte – und die Polizeiverbände – dienen nicht mehr dazu, Länder zu erobern oder gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Allerdings sind sie der Schlüssel, um Regierungen zu stützen oder zu stürzen. Nachdem die Linke etwas Raum in Lateinamerika zurückgewinnen konnte, wie in Mexiko oder jüngst in Argentinien, läge es für die progressiven Regierungen nahe zu erkennen, dass ein demokratisches Umfeld keine ausreichende Garantie für eine Erneuerung der Streitkräfte eines Landes ist. Man muss ihnen gegenüber zur Tat schreiten. So wie der ehemalige Chef der argentinischen Generalstabs César Milani versicherte, dass 36 Jahre der Demokratie nicht genügen, um die Streitkräfte Argentiniens in eine neutrale Institution zu verwandeln. Nicht einmal ein Jahrhundert würde dafür reichen.
Luis Gonzalo Segura ist Ex-Leutnant des spanischen Heeres. Er hatte Korruption, Amtsmissbrauch und anachronistische Privilegien in den Reihen der Streitkräfte angezeigt, was zu seiner Entlassung aus dem Militärdienst führte. Er ist Autor des Essays "El libro negro del Ejército español" (2017) sowie der Erzählungen "Un paso al frente" (2014) und "Código rojo" (2015).
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