Zurück in die UdSSR? Team Nawalny will, dass die Russen die einst verhassten Kommunisten wählen
von Paul Robinson
Historisch gesehen gibt es zwei Lager innerhalb der russischen Liberalen. Die eine Seite befürchtet die Folgen eines Systemzusammenbruchs und hält die Feinde der Regierung für gefährlicher als die Regierung selbst. Sie bemüht sich daher um eine Zusammenarbeit mit der Obrigkeit. Die andere Seite hingegen sieht die Obrigkeit als das zentrale Problem. Sie muss zerstört werden. Und zu diesem Zweck ist jeder, der sich dieser Revolution verschrieben hat, ein potenzieller Verbündeter, so illiberal er auch sein mag.
Im frühen 20. Jahrhundert, also noch vor der bolschewistischen Revolution, fanden viele auf der letztgenannten Seite eine Heimat in der reformistischen Kadettenpartei. Nach dem Prinzip "Keine Feinde auf der linken Seite" waren die Kadetten sogar bereit, mit den Kommunisten eine Übereinkunft zu treffen. Die Wahlen zum ersten russischen Parlament, der Duma, waren indirekt und fußten auf einem Wahlsystem, das ein gewisses Feilschen um die Sitze zuließ. Um die Revolutionäre zu besänftigen, übergab die Kadettenpartei bei den Wahlen von 1907 einen ihrer Sitze in Sankt Petersburg an einen Kandidaten der bolschewistischen Partei Lenins. Solch eine Torheit übersteigt jegliches Vorstellungsvermögen.
Schneller Vorlauf durch mehrere Jahrzehnte bis zu den letzten Monaten der Sowjetunion, in denen die Dynamik dieselbe war, wenn auch mit einem anderen Ziel. Nun galt es, die Kommunistische Partei und das von ihr geschaffene System zu zerstören. Dieses Ziel hatte auch nach dem Zusammenbruch der UdSSR Priorität. Vieles von dem, was die Regierung von Boris Jelzin in den frühen 1990er-Jahren unternahm, war darauf ausgerichtet, eine Renaissance der Kommunisten zu verhindern, die sich bis dahin in der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) unter Führung von Gennadi Sjuganow neu organisiert hatten.
Was den russischen Liberalismus in jener Zeit ausmachte, war in der Tat ausschließlich sein Hass auf alles Kommunistische. Wie es der erste Ministerpräsident unter Jelzin, Jegor Gaidar, einmal ausdrückte: "Wenn man die Schriften Sjuganows liest, haben sie zwar nichts Marxistisches, aber vieles ähnelt den Schriften Hitlers. Deshalb sind die Kommunisten so gefährlich."
Gaidar muss sich heute im Grabe umdrehen, denn der Fokus des radikalen Liberalismus hat sich wieder einmal verschoben. Sein Feind ist jetzt der Nachfolger von Jelzin – Präsident Wladimir Putin. Im Kampf um den Sieg über den Kreml werden Liberale ermutigt, für den "gefährlichen" Sjuganow zu stimmen. Es riecht durch und durch erneut nach 1907.
Die Hälfte der Sitze im russischen Parlament wird durch Erststimmen in Einzelwahlkreisen vergeben. Alexei Nawalny und sein Team haben diese Tatsache genutzt, um ein Schema namens "Smart Voting" zu entwickeln, das darauf abzielt, die Pro-Putin-Partei Einiges Russland bei den Wahlen zu besiegen – oder zumindest zu schwächen.
"Smart Voting" ermutigt diejenigen, die mit der aktuellen Regierung nicht zufrieden sind, ihre Stimme für den Kandidaten in einem bestimmten Wahlkreis abzugeben, der die größten Chancen hat, den Kandidaten von Einiges Russland zu besiegen. Die Weggefährten des inhaftierten, vom Westen unterstützten Oppositionellen Nawalny, haben im Vorfeld identifiziert, wer diese Kandidaten in der anstehenden Wahl sind, und deren Namen auf einer Webseite veröffentlicht, in der Hoffnung, dass die Wähler in Massen für diese stimmen werden und dies Einiges Russland zahlreiche Wählerstimmen kosten wird.
Die Reaktion der amtierenden Regierung, die in der Initiative eine vom Ausland unterstützte Masche sieht, war schnell und – angesichts des offensichtlichen Mangels an öffentlichem Interesse – unverhältnismäßig. Am vergangenen Freitag wurde der US-Botschafter vorgeladen, der erklären sollte, weshalb sich US-Internet-Riesen angeblich weigern, die besagte Webseite und die dazugehörige mobile App vom Netz zu nehmen, wodurch es den Russen ermöglicht wird, mittels Einsatz einer VPN-Verbindung eine gerichtliche Verfügung zu umgehen, die eine Sperrung der Inhalte innerhalb Russlands angeordnet hatte.
Die Liste auf der Webseite enthält die Namen von 137 Mitgliedern der Kommunistischen Partei, 48 Namen der linksgerichteten Partei Gerechtes Russland, 20 Namen von Wladimir Schirinowskis rechtskonservativer Liberaldemokratischer Partei, lediglich zehn von der liberalen Partei Jabloko, fünf von der liberalen Partei Neue Leute und einen Namen von der wirtschaftsfreundlichen Partei des Wachstums.
Mit anderen Worten, "Smart Voting" – intelligentes Wählen – bedeutet im Endeffekt, kommunistisch zu wählen. Da braucht man sich nichts vorzumachen.
Was auch immer die Absicht Nawalnys ist, in der Praxis haben er und sein Team sich effektiv zu Wahlhelfer der Kommunistischen Partei gemacht – ohne dass die Kommunisten dies gefordert hätten. Es ist auch nicht überraschend, dass die Parteispitzen von Jabloko wegen dieser Geringschätzung zutiefst beleidigt sind. Denn was Nawalny sagt, ist, dass die Russen nicht für die wichtigste liberale Partei des Landes stimmen sollten, sondern für
eine Partei, die für die meisten Liberalen ein absoluter Gräuel ist.
Das alles entspringt keiner sehr prinzipiellen Haltung. Wenn es einen Grundsatz gibt, dann ist es der, dass das herrschende System mit allen Mitteln zerstört werden muss. Aber das ist völlig widersinnig. In der Politik im Stil eines Nawalny dreht sich alles um Action: Demos veranstalten, verhaftet werden, Schlagzeilen machen und so weiter – alles in dem verzweifelten Versuch, relevant zu bleiben. Dabei bleibt die Entwicklung eines positiven politischen Programms auf der Strecke.
Darüber hinaus muss man sich fragen, was das Team Nawalnys glaubt, was passieren würde, wenn sein "intelligentes Wahlschema" funktionierte. Man stelle sich vor, dass alle Russen dem Rat folgen und die Kandidaten auf der Nawalny-Liste wählen.
Russland würde am nächsten Montag mit einer kommunistischen Mehrheit im Parlament aufwachen. Wie kann das der Sache des russischen Liberalismus dienen? Gar nicht. Sollten die Kommunisten als Wahlsieger dastehen, gefiele das Ergebnis den Nawalny-Anhängern gar nicht.
Aus genau aus diesen Gründen wird "Smart Voting" nicht viel bringen. Auch wenn Einiges Russland nicht besonders gemocht wird, scheint es, dass der durchschnittliche Russe sie den Kommunisten vorzieht. Es ist Wunschdenken, dass Millionen von Menschen ihre Abneigung gegen Sjuganow und die KPRF ignorieren und für sie stimmen werden, nur um Putin zu ärgern. Einige mögen dies tun, aber nicht viele, und sicherlich nicht genug, um einen signifikanten Einfluss auf die Wahlergebnisse zu haben.
Das bedeutet nicht, dass die KPRF schlecht abschneiden wird. Laut Meinungsumfragen steht sie wesentlich besser da als 2016. Es ist wahrscheinlich, dass sie eine angemessene Anzahl an Sitzen erringen wird. Und zweifellos werden Nawalny und seine Unterstützer die Lorbeeren dafür beanspruchen. "Schauen Sie, wie gut die Kommunisten abgeschnitten haben", werden sie sagen und hinzufügen, dass es daran liegen muss, dass Nawalny den Leuten gesagt hat, sie sollen sie wählen – aber das wird nicht zutreffen. Die Wähler, die kommunistisch gewählt haben, werden sowieso wieder kommunistisch wählen. Man sollte sich da nicht täuschen lassen.
Es ist ein trauriges Schauspiel der Erniedrigung für die russische Opposition, dass sie in eine Position geraten ist, in der die Liberalen für die Kommunistische Partei die Wahlkampftrommeln rühren. Wenn man liberal eingestellt ist und gegen Einiges Russland stimmen möchte, hat man viele andere Optionen, vor allem Jabloko, aber auch solche wie die Partei des Wachstums, die Bürgerplattform und sogar Neue Leute. Es ist sicherlich nicht Sache außenstehender Kommentatoren, wie ich einer bin, sich in die russischen Wahlen einzumischen, indem man den Wählern vorschreiben will, wem sie ihre Wahlstimme geben sollen. Aber "smart" zu wählen, ist vielleicht alles andere als "smart".
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Übersetzt aus dem Englischen.
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Paul Robinson ist Professor an der Universität von Ottawa. Er schreibt über russische und sowjetische Geschichte, Militärgeschichte und Militärethik und ist Autor des Blogs Irrussianality.
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