"Deutschland ist tot": Wohlhabende Deutsche ziehen in russische Dörfer
Von Dora Werner
In dem Gebiet Nischni Nowgorod wächst eine Siedlung – sie wurde von Deutschen gegründet, die nach Russland gekommen sind, um hierzubleiben, berichtet der russische Sender NTV. Auf die ersten Landsleute, die sich in der Nähe von Nischni Nowgorod niederließen, werden bald Hunderte Deutsche folgen. Alle haben sich von den Videoberichten ihrer Mitbürger anstecken lassen, die in den sozialen Medien ausführlich über ihr Leben in Russland erzählen.
Alles begann damit, dass der Potsdamer Unternehmer Remó Kirsch drei Hektar Land am Rande des Dorfes Injutino in dem Gebiet Nischni Nowgorod kaufte – mit der Absicht, Häuser für seine Landsleute zu bauen, die nach Russland ziehen wollen. NTV berichtete:
"Man wird hier von einem Schild begrüßt: Dorf Inyutino, Kreis Kirschhausen, Siedlung Kirsch. Das ist deutscher Humor und der Name ist natürlich inoffiziell. Aber offiziell soll das Dorf in der Zukunft RuDe heißen, Russland-Deutschland, und das genau in der Reihenfolge, denn die Bewohner dieses Ortes sagen, dass sie sich hier vor allem als Gäste fühlen. Remó Kirsch lebte in Potsdam, besaß fünf Firmen, verkaufte sie alle und zog mit seiner Frau dauerhaft in das Gebiet Nischni Nowgorod. Jetzt baut der Mann Häuser für sich und seine Landsleute."
In dem Haus nebenan wohnen bereits Kirschs ostdeutsche Freunde, ein älteres Ehepaar. Und der Unternehmer erwartet, dass bald etwa dreihundert eingewanderte Familien in dem "deutschen Dorf" leben können. Dabei machte Kirsch keinen Hehl daraus, dass es sich um eine Art Flüchtlingssituation handelt.
Die Deutschen könnten endlos über die Gründe für ihren Umzug reden, so NTV. "Es läuft alles darauf hinaus, dass sie mit dem derzeitigen Kurs der Europäischen Union im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen nicht einverstanden sind", schrieben die Journalisten des Senders. Kirsch erläuterte:
"Viele Russen denken, dass Deutschland ein Paradies sei – die Ausbildung ist gut, die Bildung, die Industrie, das Leben ist gut, die Wirtschaft, ein Paradies also. Das stimmt abernicht mehr. Bessere Autos, bessere Medizin – diese Zeiten sind längst vorbei. In dem Sinne, wie die Russen es verstehen, ist Deutschland schon vor zehn bis fünfzehn Jahren gestorben."
Kirschs Entscheidung, das Heimatland zu verlassen, reifte einige Jahre. Zuerst kam die Pandemie und dann noch der Konflikt in der Ukraine. Dadurch habe Remó aufgehört, den europäischen Medien zu vertrauen, sagte er gegenüber NTV.
"Ab dem Jahr 2019 berichteten die deutschen Medien über Nazis in der Ukraine und Korruption als kolossales Problem in diesem Land. Im Jahr 2020 fingen sie plötzlich an, das Gegenteil zu sagen, dass alles gut sei, alle seien Freunde. Und man begann, das amerikanische Existenzsystem umzusetzen, die dictatura americana."
Auch lokale Beamte bestätigten, dass einige hundert deutsche Familien planen würden, in das Gebiet Nischni Nowgorod zu ziehen. So berichtete Olga Gusewa, Leiterin der Abteilung für Außenbeziehungen der Regierung des Gebiets, Anfang April auf der Konferenz "Das Potenzial an Humanressourcen von Umsiedlern aus Europa und den USA: Regionale Praxis" in der Staatsduma, dass etwa dreihundert deutsche Einwohner bereit seien, im Jahr 2023 in die Region zu ziehen. Nach Angaben der Zeitung Iswestija sagte Gusewa, dass die Zahl der Umzugswilligen bis Ende 2023 auf tausend Personen ansteigen könne. Die Beamtin erklärte:
"Im März dieses Jahres haben wir einen Brief von einem deutschen Staatsbürger erhalten, der uns gebeten hat, seinen Landsleuten bei der dauerhaften Ansiedlung in dem Gebiet Nischni Nowgorod sowie bei der Suche nach einer Beschäftigung zu helfen. Die deutschen Einwohner sehen in der Zusammenarbeit mit dem Gebiet Nischni Nowgorod ein großes Potenzial im Bereich der Autoindustrie, der Energieumwandlung, des Baus, der Entwicklung der Infrastruktur und der Logistik."
Gusewa stellte auch fest, dass die meisten Umzugswilligen aus technischen Berufen im Bereich der Metallverarbeitung sowie aus der Automobilindustrie und dem Schiffbau kämen. Aber auch Ingenieure, Architekten, Maurer, Fliesenleger und Landarbeiter würden zu den Menschen gehören, die umziehen wollen.
Nischni Nowgorod ist nicht der einzige Ort in Russland, an den deutsche Staatsbürger ziehen wollen – oder bereit seien, dorthin zu gehen. Im März schrieb die Nachrichtenagentur URA.ru, dass bei den Behörden im Ural Anträge auf Umsiedlung aus Deutschland und anderen europäischen Ländern eingegangen seien. Vor dem Ukraine-Konflikt habe es keine derartigen Anfragen gegeben, so die Agentur. Auch die Zolldirektion Ural stellte eine Zunahme der Anträge von Ausländern fest, die für einen dauerhaften Aufenthalt nach Russland kommen.
Laut der Tageszeitung Moskowski Komsomolez beabsichtigen möglicherweise Hunderttausende von Deutschland nach Russland umziehen – aber bisher würde alles durch die unvollkommenen russischen Migrationsgesetze behindert. Außerdem seien die Migrationsquoten im Rahmen des staatlichen Programms winzig. Tatiana, eine ehemalige deutsche Staatsbürgerin, stammt aus einer Familie von Wolgadeutschen. Sie wuchs in Deutschland auf und zog vor Kurzem nach Moskau. In einem Interview mit der Zeitung sagte sie:
"Millionen Menschen wollen umziehen, aber sie können es nicht, weil das staatliche Umsiedlungsprogramm nur für 130 Personen pro Jahr ausgelegt ist. Es gibt aber zwei oder drei Millionen Menschen, die umziehen wollen. Ganze Familien stehen seit Jahren Schlange, um in das Programm aufgenommen zu werden. Der Staat garantiertim Rahmen des Programms Arbeitsplätze und Wohnungen und erstattet die Umzugskosten. Es ist schwieriger, sich ohne diese Unterstützung in dem Land niederzulassen. Ich bin ohne das Programm nach Russland gezogen, auf eigene Faust – ich hatte beschlossen, dass ich von Deutschland die Nase voll habe. Ich habe mir eine Aufenthaltsgenehmigung besorgt und dann die russische Staatsbürgerschaft erhalten."
Altai ist ein weiterer Anziehungspunkt für Menschen, die von Deutschland nach Russland ziehen. Mehrere deutsche Familien sind in letzter Zeit hierhergekommen. Einer von ihnen, der Russlanddeutsche Heinrich, lebt seit zwei Jahren im Altai. Er erzählte der Zeitung Komsomolskaja Prawda, dass einige der Familien bereits vor der militärischen Sonderoperation in der Ukraine nach Russland gezogen seien. Aber es gebe auch neue Geflüchtete – solche, die vor Russophobie fliehen. Komsomolskaja Prawda schrieb:
"Heinrich und seine Frau Inna sind 44 Jahre alt, in der UdSSR geboren, aber als Kinder wurden sie nach Deutschland gebracht. 'Wir haben 30 Jahre lang in Deutschland und der Schweiz gelebt. Wir hatten ein schönes Haus, ein Geschäft, teure Autos. Aber wir wollten ein anderes Leben. Ein einfaches, verständliches Leben. Wir haben fünf Kinder, drei sind jetzt bei uns im Altai, sie sind zwölf, acht und vier Jahre alt. Zwei erwachsene Kinder sind noch in Europa', erzählte er."
Heinrich berichtete den Journalisten, dass er viele E-Mails von Menschen aus Deutschland bekomme, die ebenfalls nach Russland ziehen wollten. "Ich verbringe die Hälfte meiner Zeit mit diesen Beratungen", klagte er. Manche kämen, um sich einen möglichen Wohnsitz genauer anzusehen. "Gerade ist der Sohn einer wohlhabenden Frau abgereist", erzählt Heinrich von einem seiner jüngsten Gäste, "sie haben schon beschlossen, hierherzuziehen, sie verkaufen alles in Deutschland." Und das, obwohl der neue Einwanderer kein Russlanddeutscher ist. Die Gründe für den Umzug sieht Heinrich so:
"Wegen der zunehmenden Spannungen in der deutschen Gesellschaft sind die Menschen verbittert. Es gibt immer weniger Freiheit … und die Russophobie irritiert bereits selbst die Deutschen. Mein Neffe hat seinen Job verloren, weil er sich unpassend über Russland geäußert hat. Und dann sind da noch die LGBT-Menschen. Nein, niemand ist gegen solche Menschen, aber warum sollten sie derartig hochgespielt werden? Einfach unheimlich."
"Die Flucht der Deutschen aus der Bundesrepublik hat bereits begonnen. Würde Russland wie zu Zeiten Katharinas der Großen den Deutschen ermöglichen, auf seinem Territorium verdichtet zu leben, würde ein sehr großer Teil derer, die jetzt auf gepackten Koffern sitzen, nach Russland gehen", glaubt der deutsche Unternehmer und Ex-Bundestagsabgeordnete der Partei Alternative für Deutschland, Waldemar Gerdt. Im vergangenen Jahr hätten mehr als 180.000 Bundesbürger die Republik verlassen, betonte er. Die meisten von ihnen gehörten zu kleinen und mittleren Unternehmen. Davon haben 6.500 Menschen ein Jahreseinkommen von mehr als einer Million Euro, so Gerdt. In einem Gespräch mit dem Portal Business Online erklärt er:
"Unter Russlanddeutschen wie mir, die einst glücklich waren, in ihre historische Heimat zurückzukehren, beobachte ich eine totale Reisestimmung. Es gibt bereits einige von uns, die dauerhaft in Lateinamerika leben werden, und ich denke, dass dieser Prozess sich in naher Zukunft noch verstärken wird. Die Wirtschafts- und Migrationskrise sowie die berüchtigte "Gender"-Ideologie, die schon in Kindergärten und Schulen aufgezwungen wird, zeigen ihre Wirkung. All dies zwingt die Menschen dazu, ein "neues Land" zu suchen, in dem sie sich und ihren Glauben bewahren können."
Sollte die Umsiedlung von Deutschen nach Russland an Dynamik gewinnen und sich zu einem Massenphänomen entwickeln, wird dies nicht die erste – oder gar die zweite – Auswanderungswelle von deutschem Boden nach Russland sein. Seit der Herrschaft Iwans des Schrecklichen entstanden in den russischen Städten deutsche Siedlungen, und deutsche Einwanderer gehörten der russischen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Elite an. Unter Peter dem Großen und Katharina der Großen wurde die Aussiedlung der Deutschen in Russland zu einer Massenerscheinung.
Der Begründer der russischen Kosmonautik, Boris Rauschenbach, der legendäre sowjetische Spion Richard Sorge, der Schöpfer der russischen Komödie Denis Fonwisin, der Regisseur Wsewolod Meyerhold und der Pianist Swjatoslaw Richter, der Archäologe Heinrich Schliemann, der Troja entdeckte, die Dichterin Marina Zwetajewa, der Revolutionär und Philosoph Aleksander Herzen und viele, viele andere sind Nachkommen jener Deutschen, die einst ins Russische Reich auswanderten. Und nicht zu vergessen: Ludwig Knoop, der Urururgroßvater der Chefin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen. Ein Geschäftsmann, ein Werksbesitzer und ein sagenumwobener Textilmagnat. Knoop wurde der "Baumwollkönig" genannt – er kam im Alter von achtzehn Jahren nach Russland, übernahm mit der Zeit die gesamte Textilindustrie des Reiches, brachte schließlich britische Industrietechnologie sowie amerikanische Baumwolle nach Russland und rettete dadurch so nebenbei auch den amerikanischen Markt in einer Zeit der Wirtschaftskrise.
Eine der berühmtesten Deutschen, die Russland nicht nur Weltruhm, sondern auch die Herrschaft im eurasischen Raum einbrachte, war Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Sie wurde zur russischen Kaiserin Katharina die Große, die die Krim sowie jene ukrainischen Gebiete in das Reich eingliederte, um die derzeit ein Krieg tobt – der die deutschen Nachkommen der Kaiserin wieder nach Russland bringt.
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