Erfolg der russischen High-Tech-Forschung: Komposit-Tragflächen für neuen Passagier-Jet MS-21
von Alexei Sakwassin, Maxim Lobanow, Nadeschda Alexejewa, Dmitri Gukow
Im Endstadium der Entwicklung und Erprobung hat das neue russische Mittelstrecken-Passagierflugzeug MS-21 noch neue federleichte Tragflächen aus Verbundstoff mit der erforderlichen Festigkeit und Flexibilität erhalten. Dies wurde aus dem Luftfahrtzweig der Rostec, der russischen Staatsgesellschaft zur Förderung hoher Technologien (Rostechnologii; Ростехнологии) gegenüber RT berichtet. Zuvor wurden vom russischen Luftfahrtkonsortium OAK und ZAGI (Zentrales aero-und hydrodynamisches Institut) die statischen Prüfungen des Flügelkastens – des tragenden Hauptelements einer Tragfläche – abgeschlossen.
Diese Verbundwerkstoffe machen die Tragflächen leichter als bisher und verleihen ihnen die heute bestmöglichen aerodynamischen Eigenschaften. Laut den Experten verbessert das folglich auch die Treibstoffeffizienz und erhöht somit die Flugreichweite. Allerdings muss das Konstrukt wegen sanktionsbedingter Lieferverbote für ausländische Werkstoffe neuerdings komplett aus heimischen Materialien gefertigt werden, was eine Umstellung und Neuzulassung erforderte.
Leistung auf Weltniveau – und Legung eines Grundsteins
Die Umstellung wurde nun erfolgreich beendet – Rostec gab gegenüber RT die weitgehende Serienreife des neuen Bauteils und die Tauglichkeit der neuen russischen Werkstoffe bekannt:
"Die Tests des Flügelkastens haben die Richtigkeit der Methoden zur Berechnung der Festigkeit der [verwendeten] Verbundwerkstofferzeugnisse bestätigt. Es wurde experimentell bewiesen, dass das Hauptantriebselement des Flügels – der Flügelkasten – auch unter der ungünstigsten Kombination von Flugbedingungen Festigkeit und Sicherheit bietet. Alle künftigen und auch im Bau befindlichen Flugzeuge [des Typs MS-21] werden mit Tragflächen aus einheimischen Materialien ausgestattet."
Dies ist keine Kleinigkeit: Rostec erinnerte daran, dass bisher weltweit nur sehr wenige Passagierflugzeuge mit Verbundwerkstoff-Tragflächen ausgestattet sind, darunter in den USA das Großraumflugzeug Boeing 787 Dreamliner und in Europa das Schmalrumpfflugzeug A220 von Airbus Industries. Umso größer ist dieser Erfolg – die Festigkeitstests bei Bruchproben ergaben, dass der Flügelkasten das Eineinhalbfache der für sicheren Flugbetrieb veranschlagten Überbelastung aushält, so Rostec:
"Am ZAGI-Stand brach der Flügelkasten unter einer Belastung zusammen, die anderthalbmal größer war als die zuvor berechnete. Der Erprobung wurde unter speziell dafür geschaffenen klimatischen Bedingungen durchgeführt: Um den Einfluss der Temperatur auf die Festigkeitseigenschaften des Verbundwerkstoffs zu berücksichtigen, wurde ein Teil der Tragflächenstruktur des Flugzeugs der Erwärmung unterzogen."
Die Grundsteinlegung
So groß dieser Einzelerfolg für sich genommen auch sein mag: viel wichtiger – von kaum zu überschätzender Tragweite für die Zukunft des gesamten russischen Flugzeugbaus – ist der Weg, der dahin führte. Dass man bei Rostec meinte, in diesem Zusammenhang an die bisherige Seltenheit von Verbundmaterialflügeln unter größeren Passagierflugzeugen unbedingt erwähnen zu wollen, rührt nicht von ungefähr.
Ganz grundlegend musste zunächst einmal eine verlässliche Methodik zur Berechnung der Robustheit von Tragflächen aus Verbundwerkstoffen entwickelt werden – und die Festigkeitserprobung des fertigen Prototyp-Flügels war gewissermaßen auch deren Feuertaufe. In einem Kommentar für Journalisten über das Ergebnis der Erprobungen des Kompositflügels stellte der Generaldirektor der OAK Juri Sljussar fest, dass die Prüfung "die Richtigkeit der Berechnungsmethoden für die Festigkeit von Erzeugnissen aus Verbundwerkstoffen" bestätigt habe.
Nicht minder wichtig waren auch sehr viele andere Erprobungen aller Art, welche die Entwicklung einer jeden neuen Verbundwerkstoff-Tragfläche für große Passagierflugzeuge erfordert. Diese galt es zu systematisieren und – auf zahlreiche Laboratorien und Prüf- und Erprobungsstände unter einem Dach verteilt – zu einer einheitlichen Prüfroutine zusammenzufassen.
Kirill Sypalo, Generaldirektor des russischen Zentralen Aero- und hydrodynamischen Instituts ZAGI und korrespondierendes Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärte dazu: Die seiner Geschäftsleitung anvertraute Forschungseinrichtung verfüge über eine fortschrittliche experimentelle Basis, die es ermögliche, "ein riesiges Volumen an Erprobungen im Rahmen des Innovationsprogramms der MS-21 durchzuführen".
Verbundwerkstoff-Tragflächen in einem Stück: Vorteile in Fertigung und Betrieb – auch für die Fluggäste
Die Notwendigkeit, einen vollständig aus einheimischen Polymerverbundwerkstoffen gefertigten Flügel zu entwickeln, ergab sich aufgrund des Verhängens von zahlreichen Sanktionen gegen Russland zuerst durch die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2018. Mit der anspruchsvollen Aufgabe einer Importsubstitution betraut wurden Kollektive der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau, der zivilen Föderalen Agentur für Atomenergie Russlands Rosatom sowie einer Reihe von Unternehmen der russischen Luftfahrtindustrie. Die russische Regierung stellte für dieses Projekt insgesamt etwa 4,4 Milliarden Rubel bereit.
Der Erstflug einer MS-21 mit Tragflächen aus einheimischen Verbundwerkstoffen fand dann bereits am 25. Dezember 2021 statt. Das Luftfahrzeug wurde von der Besatzung der Testpiloten Roman Taskajew und Oleg Kononenko – beide als Helden Russlands ausgezeichnet – gesteuert. Das Debüt wurde ein voller Erfolg: Die Piloten absolvierten die ihnen aufgetragenen Flugmanöver vollständig, und alle Systeme der Maschine funktionierten im normalen, zulässigen Betriebsmodus.
In einem Interview mit RT im Dezember 2021 betonte der Vorsitzende des Staatsduma-Ausschusses für Industrie und Handel Wladimir Gutenjow, dass es russischen Wissenschaftler gelungen war, sozusagen im Eiltempo neue Verbundwerkstoffe für diesen sogenannten "schwarzen Flügel" der MS-21 zu entwickeln und dabei auch eine Technologie der Vakuuminfusion zu patentieren, die es "ermöglichte, einen Flügel von guter Streckung und verbesserter Aerodynamik herzustellen".
Wie der Chefredakteur der russischen Spezialzeitschrift für Luftfahrt Avia.ru Roman Gussarow gegenüber RT erklärte, ermöglicht das Verfahren der Vakuuminfusion (kurz auch Infusionstechnologie), dass sehr lange Flugzeugtragflächen buchstäblich in einem Stück gebacken werden können. Die Grundlage dieser Fertigungsart besteht darin, dass die dickflüssigen Füllharze mit Unterdruck in einen über eine Formwanne gestülpten Beutel nach und nach hineingezogen werden und dabei die bereits in der Formwanne liegende Faserstruktur umschließen. Anschließend lässt man das Bauteil (üblicherweise bei Raumtemperatur) verweilen. Weil sich damit sehr große Bauteile fertigen lassen, wird eine Tragfläche möglich, die gleichzeitig eine sehr hohe Streckung aufweist – dabei jedoch im Wesentlichen ihrer gesamten Länge und Breite nach aus einem einteiligen Flügelkasten besteht, an dem dann später die üblichen Anbauteile wie Klappen, Ruder und Triebwerke befestigt werden können. Das Ergebnis sind nicht nur gute Nutzungseigenschaften einer Tragfläche wie bereits beschrieben, sondern auch weitaus geringere Anschaffungskosten für Fertigungsgeräte – etwa im Vergleich zu dem sonst bisher im Verkehrsflugzeugbau üblichen Spritzpressverfahren, das außerdem die wirtschafliche Fertigung sehr großer Bauteile nach heutigem Stand der Technik so gut wie unmöglich macht. Gussarow sagte dazu wörtlich:
"Unsere Ingenieure haben gelernt, wie man die langen Paneele eines Flugzeugflügels in speziell entwickelten Öfen backen kann. Das brachte nicht nur Tragflächen mit sehr guter Streckung und Aerodynamikeigenschaften ein, sondern auch eine drastische Verringerung der Masse des Erzeugnisses – muss es doch nicht mehr von einer großen Anzahl von Metallnieten zusammengehalten werden, die das Gewicht in erheblichem Maße vergrößern."
"Fertig gebacken" kommt aus der Formwanne und der Vakuumhülle schließlich eine starre Polymermatrix. Die Vakuuminfusion ist also insofern praktisch, als sie es ermöglicht, beinahe jede Form eines Erzeugnisses mit einer komplexen, großen Oberfläche in einem Stück aus Verbundwerkstoffen zu erzeugen, ohne große Anschaffungskosten für die Spritzpressen und deren Formen sowie Montagekosten aus mehreren Segmenten zu verursachen.
Zuvor wurde eine an ihre Bedürfnisse angepasste VARTM-Infusionstechnologie von Mitgliedsunternehmen des russischen Luftfahrtkonsortiums OAK erfolgreich entwickelt und beherrschbar gemacht. Der gesamte Arbeitszyklus für die Herstellung der Tragflächen für die MS-21 läuft innerhalb dieser Unternehmen ab. Vor allem das Werk AeroKompositUljanowsk wandte erstmals in der Welt das VARTM-Verfahren für die Fertigung von Bauteilen dieser Größe an. Die fertigen Erzeugnisse werden dann an die Flugzeugfabrik von IRKUT nach Irkutsk geliefert, wo die Endmontage der Maschinen erfolgt.
In einem Gespräch mit RT unterstrich Anton Koren, Geschäftsleiter des russischen Zentrums für strategische Entwicklungen in der Zivilluftfahrt, dass die Beherrschung der Produktion des "schwarzen Flügels" der Passagierflugzeug-Serie MS-21 mehrere entscheidende Wettbewerbsvorteile verschaffen werde.
"Der Verbundwerkstoffflügel macht das Flugzeug leichter, was die Treibstoffeffizienz spürbar verbessert und die Reichweite erhöht. Dies ist ein bedeutender Vorteil im Betrieb. Es ist nicht zuletzt der Verbundwerkstoff-Flügel, der die MS-21 zu einem würdigen Konkurrenten für ausländische Flugzeuge macht."
Der Vorteil des geringeren Gewichts gilt aber nicht nur für die Tragflächen: Insgesamt hat die russische Industrie nach Ansicht des Sachverständigen mittlerweile große Fortschritte bei der Integration von Verbundwerkstoffen in die Konstruktion der MS-21 gemacht. Der Anteil dieser modernen Werkstoffe in diesem Verkehrsflugzeug beträgt etwa 40 Prozent. Der Leiter von Rostec Sergei Tschemesow unterstreicht diese Zahl als für Mittelstreckenflugzeuge weltweit rekordverdächtig. Und der Verbundwerkstoff-Flügel bringe neben besseren Flugeigenschaften auch Vorteile für den Fluggast – die bessere Aerodynamik nutzte man aus, um die Fluggastkabine breiter zu machen:
"Die Verwendung von festen und leichten Verbundwerkstoffen ermöglichte es, einen Flügel mit einzigartigen aerodynamischen Eigenschaften zu schaffen, die für einen Metallflügel unerreichbar sind. Dank der verbesserten Aerodynamik konnte der Rumpf der MS-21 verbreitert und die Kabine vergrößert werden, was neue Vorteile für den Komfort der Passagiere mit sich bringt."
Ende Dezember kündigte der russische Ministerpräsident Michail Mischustin an, dass die russische Regierung zusätzlich mehr als 61 Milliarden Rubel für die verbleibenden Entwicklungsarbeiten im Rahmen des MS-21-Projekts, einschließlich der Importsubstitution, bereitstellen werde.
Die "Russifizierung" der MS-21
Die russischen Behörden verhehlen nicht, dass sich die Sanktionen in gewisser Weise durchaus negativ auf das MS-21-Programm ausgewirkt haben. Vor allem die US-Beschränkungen haben den Start der kommerziellen Produktion des neuen russischen Passagierjets verzögert.
Am 22. März allerdings kündigte Denis Manturow, Leiter des Ministeriums für Industrie und Handel, die Serienproduktion der MS-21 für das Jahr 2024 an. Zu diesem Zeitpunkt sollen alle Zertifizierungsprozeduren abgeschlossen sein – und davon gibt es nicht wenige:
"Denn jedes Bauteil, das in einem Flugzeug ausgetauscht werden muss, erfordert entsprechende Verfahren und Erprobungen, um wieder alle Sicherheitsanforderungen der Luftfahrt zu erfüllen."
Im Luftfahrt-Cluster von Rostec erinnert man daran, dass die MS-21 ursprünglich in breiter internationaler Zusammenarbeit entwickelt wurde:
"Dies ist eine weltweit übliche Praxis. Jedoch laufen die Arbeiten an der importsubstituierten MS-21 nun bereits seit mehreren Jahren, und dieser Prozess wird jetzt beschleunigt."
Nach Abschluss der Importsubstitution werden die verschiedenen MS-21-Varianten mit Fluggastkapazitäten zwischen 163 bis 211 Passagieren im Flugzeugwerk Irkutsk hergestellt. Das OAK-Konsortium schätzt den Bedarf allein des russischen Marktes an diesem neuen Verkehrsflugzeug auf 600 Einheiten – und geht davon aus, dass die Produktionskapazität der Russischen Föderation ein Niveau von 72 Maschinen pro Jahr erreichen kann.
Im Luftfahrt-Cluster von Rostec erinnert man daran, dass die Erprobung der MS-21-310 mit dem russischen Triebwerk PD-14 derzeit läuft – ursprünglich wurden Triebwerke von Pratt & Whitney verbaut. Doch das Verkehrsflugzeug wurde nun mit den einheimischen Triebwerken auch bereits auf der internationalen Luftfahrtmesse Dubai Air Show im November 2021 vorgestellt.
Roman Gussarow ist der Ansicht, dass die russische Industrie kurz vor Beginn der Serienproduktion steht – und dieser Prozess nur noch durch die Zertifizierungsschritte verzögert wird:
"Der verzögerte Start der Serienproduktion ist erzwungen, aber gleichzeitig notwendig, weil die Komponenten im Inland hergestellt werden und zertifiziert werden müssen. Das ist aber keine Krise. Die MS-21 ist nach wie vor die modernste in ihrer Klasse. Sie übertrifft ihre Konkurrenten in einer Reihe von Merkmalen – und darüber hinaus verfügt dieses Flugzeug über ein enormes Modernisierungspotenzial."
Mehr noch: Obwohl die von den USA verhängten Sanktionen den tatsächlichen Start der MS-21-Produktion verzögern konnten, haben sich diese restriktiven Maßnahmen letztlich als ein hervorragender Anreiz für die Entwicklung des High-Tech-Sektors in der Russischen Föderation entpuppt, so der Interviewpartner gegenüber RT:
"In Anbetracht der politischen Lage musste Russland so oder so eine 'russifizierte' MS-21 erschaffen. Wir müssen Hunderte dieser Flugzeuge produzieren und sollten uns darum von vornherein in dieser Sache nicht von westlichen Herstellern abhängig machen."
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