Russlands stille Revolution: Brennelemente aus Nuklearabfällen könnten das Atommüllproblem lösen
Von Alex Männer
Die Atomkraft nimmt in Russland bekanntlich nicht nur eine zentrale Rolle im Energiehaushalt ein, sondern zählt inzwischen sogar zu den Lokomotiven der russischen Wirtschaft. Dieser Sektor ist finanzstark, gut entwickelt, effizient und kann – von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung nuklearer Abfälle – die gesamte Produktionskette gewährleisten.
International gehört Russlands Atombranche unbestritten zu den Weltmarktführern im Bereich der Kernenergie sowie bei der Kerntechnologie. Vor allem der technologische Fortschritt und die stetig voranschreitende Entwicklung sind unlängst zu ihrem Markenzeichen geworden, was den Russen neben der sicheren Nutzung dieser Energieart auch die Ausweitung des nuklearen Exports für friedliche Zwecke ermöglicht.
Als Hauptgarant dafür gilt der staatliche Energiekonzern Rosatom, der etwa 300 Unternehmen umfasst, mehr als 250.000 Angestellte beschäftigt und zu den größten Uranproduzenten der Welt gehört. Mit ihm besitzt Moskau einen der weltweit führenden Akteure im Geschäft mit der zivilen Atomkraft, der nicht nur die modernsten Kernkraftwerke in Russland und anderen Ländern baut, sondern auch Zentren für Wissenschaft und Technologie errichtet.
Vor allem durch große Forschungsprojekte versuchen die Russen seit jeher, die Erzeugung und die zivile Nutzung der Atomkraft weiterzuentwickeln. Dabei ist ihnen nun offenbar ein weitreichender technologischer Erfolg gelungen, den viele Experten als einen revolutionären Durchbruch der Kernenergie bezeichnen: Zum ersten Mal in der Geschichte wurden nämlich abgebrannte Brennelemente nach ihrer Wiederaufbereitung – also nach der Rückgewinnung von Spaltprodukten – als Treibstoff in einem industriellen Reaktor verwendet, und zwar über einen längeren Zeitraum.
Wiederaufbereitete Atomabfälle als Kernbrennstoff
Laut Angaben von Rosatom ist der Reaktor vom Typ BN-800 im Kernkraftwerk Belojarsk erstmals in der Welt ein ganzes Jahr lang quasi mit Atomabfällen betrieben worden, die zuvor in anderen AKWs angefallen waren und danach wiederaufbereitet wurden. Dafür verwendete man nicht wie gewöhnlich das angereicherte Uran, sondern eine innovative Uran-Plutonium-Oxid-Mischung, die man auch als "Mischoxid- beziehungsweise MOX-Brennelemente" bezeichnet. Diese werden in einem sogenannten "Brutreaktor" mithilfe von schnellen Neutronen einem kontinuierlichen Spaltprozess unterzogen, wodurch Kernenergie als Wärme freigesetzt wird.
Gestartet hat man diesen Testlauf bereits im September 2022. Im Herbst dieses Jahres soll eine abschließende Überprüfung ergeben haben, dass der Leistungsbetrieb des Reaktors zuverlässig und ohne Abweichungen erfolgt. Der mit schnellen Neutronen und als Brutreaktor betriebene BN-800 hat dabei planmäßig – wie seine Bezeichnung schon vermuten lässt – 800 Megawatt generiert und in das Stromnetz eingespeist. Damit sei der Reaktor für den industriellen und kommerziellen Einsatz bereit, heißt es.
Wie russische Experten hervorheben, wurde als Treibstoff Plutonium mitverwendet, das sonst in gewöhnlichen Wasserreaktoren zum Einsatz kommt. Für "schnelle" Reaktoren wird als Brennmaterial jedoch fast ausschließlich das herkömmliche und für industrielle Zwecke geeignete Uranisotop 235 genommen, dessen Vorkommen jedoch extrem begrenzt sind.
Dagegen wurden bei dem Testlauf die Uran-Elemente aus dem schwer spaltbaren Isotop Uran-238 zusammengesetzt, das mehr als 99 Prozent des in der Welt geförderten Urans ausmacht. Die Spaltung dieses Isotops war hinsichtlich seiner zuverlässig kontrollierten und effizienten Nutzung in der Atomindustrie bisher eigentlich kaum möglich.
Ein verwertbares Resultat haben die Russen – wie zuvor schon angemerkt – mit dem hochmodernen und sehr leistungsstarken BN-800 erreicht, in dem die Spaltung von Isotopen durch schnelle sowie besonders energiereiche Neutronen möglich ist. Bei dem Spaltungsprozess zerlegt dieser Brutreaktor Uran-238 zu Plutonium-239, das wiederum erneut gespaltet und somit als Brennmaterial in anderen Reaktoren verwendet werden kann.
Darüber hinaus ermöglicht der BN-800 laut russischen Angaben einen "geschlossenen Brennstoffkreislauf", bei dem sich Uran-238 sowohl für die Kernspaltung als auch die Wiederaufbereitung eignen soll. Im Gegensatz zu Uran-235, dessen Anteil am Natururan nur 0,7 Prozent ausmacht, sollen die weltweiten Vorkommen von Uran-238 für mehr als 2000 Jahre reichen.
Lösung für das Atommüllproblem?
Eine weiträumige industrielle und kommerzielle Anwendung dieser Technologie würde nicht nur die Effizienz des gesamten Atomsektors enorm steigern, sondern eine nahezu unendliche Energieproduktion ermöglichen.
Abgesehen davon ist der geschlossene Brennstoffkreislauf samt Wiederaufbereitung von nuklearen Abfällen ein guter Ansatz zur Lösung für das Problem der atomaren Abfälle. Denn bekanntlich ist die Endlagerung von Abfallprodukten aus der Kernspaltung, die aufgrund ihrer Radioaktivität eine große Gefahr für die Umwelt darstellen, seit jeher eine zentrale Herausforderung im Bereich der Atomkraft.
Rosatom zufolge ist man mit dieser Technologie nun in der Lage, den geschlossenen Brennstoffkreislauf endlos fortzusetzten. Die "verbrauchten" Brennelemente, einschließlich des angereicherten Urans, sollen aufgearbeitet und für die Kernspaltung wiederverwendet werden – und das offenbar so lange, bis das gesamte natürliche Uran auf der Erde verbraucht sei.
Die abfallfreie Produktion von Kernenergie und Verarbeitung von nuklearen Abfällen zu Treibstoff ist ein echter Durchbruch, der seit dem Beginn des Atomzeitalters vor fast 80 Jahren zu den Hauptzielen der Kernkraftforschung zählt. Diesbezüglich haben mehrere Länder, wie zum Beispiel die USA, China oder Japan, dahingehend geforscht, um die sichere und industrielle Nutzung von schnellen Reaktoren umzusetzen. Bislang scheiterten die meisten von ihnen aber mit diesem Unterfangen.
Insofern ist es heute Russland, das womöglich kurz davor steht, die Atommüllproblematik zu lösen. Zumindest liefert es den bislang besten Ansatz, um die Endlagerung von radioaktiven Abfallprodukten schrittweise in den kommenden Jahrzehnten maßgeblich zu erleichtern.
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